unerhört: Ich komme nicht mit seiner Vergangenheit klar

Unsere beziehungsweise-Leserin erträgt nicht, dass ihr älterer Partner vor ihr zahlreiche sexuelle Erfahrungen gesammelt hat – vor allem, weil ihr gemeinsames Liebesleben einzuschlafen droht.

Antwort: Finden Sie heraus, woher Ihr Gefühl von Bedrohung tatsächlich stammt

Sie selbst verorten Ihren aktuellen Konflikt in Ihren Gefühlen gegenüber der Vergangenheit Ihres Partners. Und nach Ihrer Schilderung wirkt sich der auch ganz konkret auf Ihr aktuelles Liebesleben aus.

Sie beschreiben, dass Ihr Partner Ihren Wunsch nach Intimität als „Druck“ erlebt. Tatsächlich kann ich Ihnen aus meiner Arbeit bestätigen – und es gibt zahlreiche Belege aus der Forschung – nichts ruiniert das Liebesleben gründlicher als Stress und Druck.

Deshalb lassen Sie mich kurz vorwegnehmen, bevor ich auf die Hintergründe zu sprechen komme: Ändern Sie Ihre Strategie, um ihn zu verführen. Die, die Sie jetzt verfolgen, wird Ihre Situation nicht verbessern. offensichtlich fühlen Sie sich ja auch selbst damit nicht wohl, wenn Sie schreiben: “Wenn ich mal den Mut habe …” Der einfachste Weg zu erfahren, wie sich Ihr Partner wünscht, verführt zu werden, wäre, ihn danach zu fragen. Es mag sein, dass seine Antwort Ihnen nicht ausreichend erscheint, aber sie wird Ihnen vielleicht eine Idee für eine neue Strategie aufzeigen und weitere Zurückweisungen verhindert. Das ist deshalb so wichtig, weil jede Zurückweisung Ihren Selbstwert verletzt und den halte ich für den Dreh- und Angelpunkt des von Ihnen geschilderten Konfliktes.

Ich halte es für gut möglich, dass Ihr Problem mit seiner sexuellen Vergangenheit auch mit seiner nachlassenden Leidenschaft einhergeht. Sie schreiben, dass dies Ihre erste Beziehung ist und er ist mit Anfang 30 und mehr Beziehungserfahrung in einer anderen Lebensphase ist als Sie. Kann es sein, dass Ihnen genau dies Angst bereitet? Dass Sie “nicht genug” sein könnten, weil Sie „nicht genug” Erfahrung haben?

Aus Ihrer Schilderung lese ich einen stark verletzten Selbstwert, der sich darin ausdrückt, dass Sie sich durch seine Vergangenheit sehr bedroht fühlen. Dabei setzen Sie in Ihrer Furcht voraus, dass Ihr Partner entsprechend Ihrer Verlustangst seine Verhaltensweisen zu verändern habe. Hier setzen Sie aber nach meiner Erfahrung auf eine unmögliche Strategie. Es wird niemals gut gehen in einer Beziehung, wenn ein Partner vom anderen Veränderungen verlangt, um ein eigenes Problem zu bewältigen. Und verzeihen Sie mir, wenn ich das so deutlich formuliere: Wenn Sie Verlustangst erleben, dann ist es zunächst Ihre Sache, an dieser Verlustangst zu arbeiten.

Würde Ihr Partner aufgrund Ihres Druckes seine Verhaltensweisen nun verändern, dann wird dies in Ihrer Wahrnehmung Ihren Wunsch legitimieren, denn damit wäre die Schuldfrage geklärt, also dass sein Verhalten Schuld ist an Ihrer Verlustangst. Dies würde jedoch zu einer Verfestigung Ihrer Paar-Dynamik, die nicht auf Augenhöhe ist, führen, und sich in ein schwer aufzulösendes Muster von Forderung und Rückzug entwickeln. Sue Johnson, Erfinderin der emotionsfokussierten Paartherapie, nennt diese Dynamik einen Tanz. Die ersten Schritte erleben Sie bereits in Ihrem Liebesleben. Sie fordern, er zieht sich zurück, Ihre Intimität wird seltener. Diese Dynamik werden Sie sicher auch in anderen Bereichen Ihrer Beziehung erleben. Und wenn Sie nicht daran arbeiten und diese Muster durchbrechen, wird Ihre Beziehung bald ganz von dieser Dynamik dominiert.

Vielleicht gelingt es Ihnen, mit Ihrem Partner gemeinsam über Dinge zu verhandeln, die Ihnen Sicherheit geben können. Ich würde Ihnen jedoch raten, dies im Rahmen einer Paarberatung zu machen. Ich sehe eine große Gefahr, dass die Bedrohung, die Sie verspüren, zu Kritik an Ihrem Partner führt. Die Überzeugungen und Glaubenssätze, die für Ihr Gefühl der Bedrohung verantwortlich sind, werden Sie möglicherweise alleine nicht zu fassen bekommen und somit nur an der Oberfläche kleine Schönheitskorrekturen vornehmen. Im schlimmsten Fall werden diese Korrekturen jedoch nur neue schädliche Schutzstrategien darstellen, die Sie vor Verletzungen schützen sollen. Sie würden dadurch die Dynamik verstärken, anstatt sie zu durchbrechen.

An erster Stelle sollte für Sie eine Stärkung Ihres Selbstwertes stehen, um sich weniger bedroht zu fühlen. Dies kann im Rahmen einer Paartherapie ein Teil der gemeinsamen Arbeit sein, ich denke jedoch, dass Sie für sich an dieser Stelle vielleicht bereits selbst ansetzen könnten. Entdecken Sie die Glaubenssätze, wegen der Sie sich bedroht fühlen und ersetzen Sie diese mit neuen, so dass Sie nicht länger aus einer Position der Schwäche heraus agieren müssen. Dies können Sie mit Hilfe geeigneter Ratgeber-Literatur auch alleine angehen, eine Begleitung durch einen Experten wird Sie allerdings vermutlich schneller ans Ziel bringen und damit auch Ihre Beziehung rascher verbessern. Und nach Ihrer Schilderung bleibt Ihnen dafür nicht mehr so lange Zeit. Deshalb wagen Sie eine neue Strategie!

unerhörtehrlich

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