unerhört: Er ist unzuverlässig und verstärkt meine Verlustangst

Er ist frisch getrennt und sucht Freiraum. Sie leidet unter Verlustangst und benötigt Verlässlichkeit

Antwort: Sie erleben ein stark unterschiedliches Bindungsbedürfnis

Sie betonen gleich zu Beginn Ihrer Schilderung sehr deutlich Ihr ängstliches Bindungsverhalten und dessen Ursachen in Ihrer Kindheit. Daraus schließe ich, dass Sie sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. Möglicherweise haben Sie dabei aber einen Punkt außer Acht gelassen, nämlich die Anziehungskraft zwischen ängstlichen Beziehungstypen und vermeidenden Beziehungstypen. Dadurch, dass Ihr Kontakt sich immer wieder zurückzieht, wird Ihr Bindungssystem erst aktiviert, das bedeutet, Sie verspüren den Drang, sich um ihn zu bemühen. Das kann auch ein Stückweit seine Faszination auf Sie ausmachen, denn wie Sie schreiben: Nach langer Zeit erst hat es bei ihm wieder “gefunkt”. Dass es sich dabei um einen frisch getrennten Partner handelt, der etwas entfernt wohnt und noch Kontakt zur Ex-Frau pflegt und sehr auf Freiraum bedacht ist, fällt zumindest in die typische Beschreibung eines vermeidenden Beziehungstypen.

Ob eine solche Konstellation gute Chancen hat, darüber streiten viele Experten. Es ist wohl so, dass diese Typen sich ergänzen und daher anziehen. Sie geben ihm durch Ihre Bemühungen eine Form von Bestätigung, die er möglicherweise nach der Trennung nun auch dringend benötigt. Sie profitieren also beide von Ihren unterschiedlichen Bedürfnissen. Ich habe oft erlebt, dass Beziehungen zwischen ängstlichen und vermeidenden Typen sehr gut funktionieren, eben weil sie sich anziehen. Leider aber auch oft, dass sie sehr schmerzhaft für die Partner sind. Denn Voraussetzung ist, dass sich beide Partner intensiv damit auseinandersetzen, welche Dynamik ihre Verhaltensweisen erzeugen. Ihnen ist bewusst, dass seine Unzuverlässigkeit ein ängstliches Gefühl bei Ihnen auslöst. Vermutlich durch Ihre Aufarbeitung Ihrer Familienerfahrung. Nun müsste ihm bewusst werden, was bei Ihnen geschieht. Denn wenn er Interesse an Ihnen hat, wird er vermeiden wollen, Sie zu verletzen. Nach Ihrer Schilderung ist gut möglich, dass sein derzeitiges Bindungsbedürfnis vor allem durch die frische Trennung geprägt ist. In diesem Fall würde ich vermuten, dass sich Ihre Paar-Dynamik durch offene Kommunikation Ihrer Bedürfnisse und Wünsche mittelfristig transparent und nachvollziehbar gestalten lässt und Sie Kompromisse finden werden, wertschätzend miteinander umzugehen. 

Denn unterschiedliche Bindungsstile, wenn sie nicht extrem ausgeprägt sind, erweisen sich in der Praxis oft nur auf den ersten Blick unvereinbar.

Freiraum ebenso wie Geborgenheit müssen nicht bedeuten: alleine oder gemeinsam. Sie als Partner können miteinander verhandeln, wie Sie sich gegenseitig in Ihrem Bindungsbedürfnis bestätigen können. Möglicherweise finden Sie ein Ritual, das Ihnen das Gefühl gibt, auch bei einer Absage immer noch die erste Priorität zu sein. Umgekehrt finden Sie vielleicht eine Möglichkeit, fixe Termine zu vereinbaren, ohne dass er das Gefühl hat, fremdgesteuert zu werden.

Klären Sie Ihre Bedürfnisse ab und vermeiden Sie dabei, diese zu werten. Sie erleben dies unterschiedlich, damit lässt sich jedoch pragmatisch umgehen, denn dieses Erleben ist nicht schlecht oder gut: Es ist, wie es ist. Sie sollten herausfinden, bei welchen Verhaltensweisen bei Ihnen die Sorge vor Verlust auftaucht und wann bei ihm die Grenze überschritten wird, sich frei zu fühlen. In der Praxis erlebe ich eine solche Dynamik sehr häufig. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Unterschiedlichkeit wertfrei zu akzeptieren, finden Sie Lösungen, die Ihnen beiden das jeweils passende Gefühl geben. Ein ebenso schöner wie praktikabler Ansatz ist das Modell der “5 Sprachen der Liebe“. Dadurch können Sie sich gegenseitig Ihre Liebe versichern, auch wenn sich die Art, wie Sie das tun, stark unterscheidet. So erhalten Sie gegenseitig Sicherheit und verstärken Ihre Bindung.

unerhörtehrlich

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