Unsere anonyme beziehungsweise-Leserin wundert sich, wie schnell die „20er-Jahre“ an ihr vorbeigezogen sind. Nun ist sie Anfang dreißig – und die Liebe, tja, die hat sie immer noch nicht gefunden
Mit neunzehn, das Abi in der Tasche, zog ich nach Berlin zum Studieren. Ich wollte von zuhause weg. Weit weg, raus aus dem provinziellen Mief mit Sommernachmittagen am Baggersee, Bremsenbissen und Knutschereien nach einer halben Flasche Schnaps. Ich wollte was erleben, ich wollte mich frei fühlen. Alles das versprach mir die Hauptstadt.
Ich zog in eine WG im nicht mehr ganz so wilden Osten der Stadt, genoss die alternative Spießigkeit, freundete mich immer mehr mit dem Spirit dieser verlorenen Metropole an. Wenn ich an Berlin denke, dann denke ich an einen unendlich langsamen, lustvollen Verfall.
Ich wurde zwanzig, ich akklimatisierte mich. Fand Freunde, fand Locations, die mir das gaben, was ich gesucht hatte, fand Männer, die ich spannend fand. Wir saßen in einem Park auf einer Flickendecke zwischen Hundeschiss und beobachteten die Dealer. Wir spuckten auf die Schiffe auf der Spree. Wir liebten unseren Altbau im Sommer und hassten seine rissigen Wände im Winter.
Da gibt’s so einen komischen Geruch in dieser Stadt, wenn es kühler wird, einen Geruch, den ich nicht mehr aus meinem Kopf kriege. Manchmal laufe ich in diesen Aufbruchjahren stundenlang durch die Straßen, nur um diesen eigenwilligen Geruch einzusaugen. Und dann werde ich einundzwanzig und in meiner Familie tut sich was. Meine Mama findet meinen Papa nicht mehr gut. Na ja, eigentlich hatte sich das schon über viele Jahre angekündigt. Jetzt war es geschehen. Aus die Idylle, die nie eine war. Finanziell konnten mich meine Eltern kaum noch unterstützen. Mein Vater hatte eine Neue, zehn Jahre jünger, ich besuchte die beiden einmal und beschloss in der nächsten Nacht unter Tränen, niemals so zu werden.
Ich war fort von zu Hause und meine Wurzeln erwiesen sich als verrottet. Ich musste arbeiten, um mein Studium und Leben zu finanzieren. Irgendwas Kreatives, als Studentenjob, es reichte zum Überleben. Die nächsten zehn Jahre wandelte ich jeden Tag am finanziellen Abgrund. Ich schien das zu mögen. Oder ich redete mir das nur ein.
Das Studium war auch nicht mehr das, was es wohl mal gewesen war. Siebziger Jahre und so. Nix da. Bologna in Preußen. Verschultes Denken, Klausuren, Klausuren, Klausuren, Prüfungsangst. Angst zu versagen, alles zu verlieren. Dabei hatte ich doch kaum etwas zu verlieren. Trotzdem war ich froh, dass die Kasse die Kosten meiner Therapie übernahm.
Meine Unschuld hatte ich in der Provinz verschenkt, und hier in der Hauptstadt wollte ich endlich mal was geschenkt bekommen. Ich fing mit was richtig Absurdem an. Ich träumte von der Liebe. Erst so richtig leise, im stillen Kämmerlein. Da malte ich sie mir aus. Liebe, die über das hinausreichte, was ich bisher kannte. Reife Liebe, nicht dieser Baggerseequatsch, nicht diese ONSs nach feuchtfröhlichen Kneipentouren am Viktoriapark. Nee, so echte Liebe halt.
Ich rannte von der Uni zur Arbeit, von der Arbeit zum Supermarkt, nach Hause, scheiße, schon wieder WG-Party, zum Späti, auf die Straße, es schneit. Ein Bier in der Hand, ah, da ist wieder dieser komische Geruch und ich merke plötzlich, verdammt, in drei Monaten werde ich vierundzwanzig und ich brauche noch mindestens ein weiteres Semester für meinen Bachelor. Ich kehre in meine WG zurück, feiere mit. Morgen ist Mittwoch, ich hätte drei Uni-Veranstaltungen. Ach, ich bin doch selber schuld. Ich stehe am nächsten Tag um eins auf. Aber ich kann nix dafür, ich find das geil.
Einmal besuchte mich meine Mutter für fünf Tage. Zum Glück nahm sie sich ein Hotelzimmer. Ich zeigte ihr ein paar meiner Lieblingsorte, wir gingen Shoppen. Sie kaufte mir einen Schal und sah mich beim Abschied am Bahnhof so eigenwillig tiefgründig an. So ein Blick, der mindestens zehn Sekunden dauert und in dem irgendeine Aussage verborgen liegt, die man aber nicht gleich deuten kann. Ich verstand sie nicht, und sie mich nicht.