Kann Liebe blind sein? Ein Interview mit Diplom-Psychologin Lisa Fischbach

Wie stehen Sie zu dem Konzept der Liebe auf den ersten Blick?

So romantisch das Bild auch sein mag, ich gebe zu bedenken, dass es sich bei der Liebe auf den ersten Blick nicht um Liebe handelt, sondern um Anziehung, Begierde oder Sehnsucht nach dem ersten Blick, die ausschließlich auf physischer Attraktivität basiert. Was aber eine Folge dessen ist: Wir geben unserem Gegenüber eine Chance, uns besser kennenzulernen. Wenn wir uns verlieben und daraus tatsächlich Liebe wird, verklären wir das im Nachhinein. Und richtig ist dann: Es hat mit einem Blick angefangen. Was oft vergessen wird, nachdem eine Beziehung entstand, ist dass es im späteren Verlauf des Kennenlernens auch einen zweiten, längeren Blick auf die Persönlichkeitseigenschaften gab. Erst danach zeigt sich, ob zwei Menschen gut zueinander passen und daraus eine tragfähige Beziehung werden kann. Dazu passt, dass sechs von zehn Befragten in der bevölkerungsrepräsentativen ElitePartner-Studie 2019 angaben, ihre Liebe hätte sich erst mit der Zeit entwickelt.

Glauben Sie, dass Beziehungen, die aufgrund charakterlicher Passung zustande gekommen sind, länger halten oder glücklicher sind?

Davon bin ich überzeugt. Gutes Aussehen ist vergänglich, die Persönlichkeit und innere Schönheit bleiben stabiler. Wie sich das auf Beziehungen auswirkt, zeigen Befragungen von Langzeitpaaren. Ohne Frage, sich gegenseitig körperlich attraktiv zu finden, ist ein wichtiger Bestandteil in einer Beziehung – vor allem auch für Erotik und Sex. Aber Optik ist eben nicht alles.

Während viele Paare erst nach Jahren heiraten, läuten bei den Kandidatinnen und Kandidaten von „Love is blind“ nach nur 30 Tagen die Hochzeitsglocken. Was halten Sie von einem so schnellen Eheversprechen?

Ich halte es für gewagt, wenn aus dem Moment der Euphorie und dem hormonellen Überschwang der Verliebtheit geheiratet wird. Der Zustand der Verliebtheit ist ein Ausnahmezustand, der in keiner Weise mit dem Alltag einer Beziehung zu tun hat. Viele Botenstoffe im Gehirn haben eine andere Aktivität, beispielsweise sinkt der Serotoninspiegel stark ab und weist so eine Ähnlichkeit mit vielen psychischen Krankheiten auf. Das trägt dazu bei, dass Verliebte sich zeitweise in einem Zustand der „Unzurechnungsfähigkeit“ befinden können, sich dabei zu irrationalen Handlungen hinreißen lassen und Hemmschwellen abbauen.

Nach 30 Tagen mag man subjektiv das Gefühl haben, alles passt perfekt und das ist der passende Mensch für die Ewigkeit, doch wirkliche Passung zeigt sich erst mit der Zeit. Es mag sein, dass die Kandidatinnen und Kandidaten bei „Love is blind“ durch die Intensität der Situation in kurzer Zeit deutlich Intimeres von sich preisgeben als das Menschen machen würden, die sich im Alltag kennenlernen. Der intensive Austausch schafft ein besonderes Gefühl von Vertrauen, wenn man mag, was man hört. Dennoch zeigt sich erst mit der Zeit, wie jemand seine Worte in der Realität umsetzt, wie er sich im Alltag oder bei Stress und in Krisen verhält.


Weitere interessante Beiträge