Gibt es in der Liebe mehr Glück als Glück?

Trotzdem sind da die vielen Abers in Victorias Kopf. Anton ist Texter, er verdient nicht sonderlich viel Geld, Anton legt wenig Wert auf Kleidung, er ist ein attraktiver Mann, aber Äußerlichkeiten interessieren ihn nicht. Oft trägt er Hemden, die Victoria am liebsten in die Tonne geworfen hätte. Victoria macht eine interessante Erfahrung: Obwohl es in ihrem Kopf schon eine ziemlich lange Liste gibt, was sie objektiv an Anton nicht gut findet oder eigentlich theoretisch nicht gut finden müsste oder dürfte nach ihren spezifischen engmaschigen Kriterien, findet sie ihn gut. Sie verliebt sich. Sie ist glücklich. Ihr Herz sagt Ja.

Ihr funkt allerdings immer wieder der Kopf dazwischen – und dann kommen die Zweifel. Ist der Anton wirklich Mr. Right? Wäre ein Mann, der immer das richtige Hemd trägt und vielleicht auch ein erfolgreicher Anwalt ist, nicht der richtige Mann für sie? Der bessere? Muss nicht noch mehr Passung her – und damit mehr Glück? Diese Gedanken trüben die Freude von Victoria. Sie behält sie für sich, sie denkt sie auch vor allem, wenn sie allein ist, sobald Anton bei ihr ist, verfliegen die Gedanken. Sie gesteht sie Oma Hedi. „Ich war sicher, dass ich das nicht auf Dauer aushalte, dass mich ständig Zweifel überfallen, ob ich an der Seite von Anton meinen Ansprüchen gerecht werde. Ich kam mir selbst unsympathisch vor mit diesen Gedanken. Wäre Oma nicht gewesen, wäre ich zu einer Therapeutin gegangen.“

Die Großmutter redet Victoria ins Gewissen und sagt: „Kind, was du denkst, was dich von Anton abhält, das ist einfach Unsinn, das sind Kopfgeburten. Er ist kein Kompromiss. Du machst keinen Fehler mit ihm. Ich sehe dir das an der Nasenspitze an, dass du ihn liebst. Du stehst dir selbst im Weg. Du bist so kritisch gewesen über viele Jahre, dass du hart geworden bist mit dir und mit den Männern. Mit Anton ist alles gut. Nimm den.“

Victoria fühlt eine neue Art von Glück

Und Victoria hat ihn genommen, sie hat sich auf Anton eingelassen, sie hat ihn nach einem Jahr geheiratet, es war ein rauschendes Fest, ihre Oma hat es noch erlebt. Victoria fühlt jetzt ein ganz anderes Glück als das, was sie erwartet hatte. Sie ist im siebtem Himmel und zugleich auf der Erde. Es ist das Glück, das entsteht, wenn man eben nicht in erster Linie darauf schielt, was der andere hat und gibt und darstellt, sondern wenn man selbst hat und gibt und überrascht und dankbar bemerkt, wie man beschenkt wird, wie man milde wird, wie man Konflikte und Marotten und falsche Hemden einfach überstehen und übersehen kann, wie es zu einem Austausch kommt an Gefühlen, an guten wie an schlechten, wie die Beziehung kein Dauer-Glanz ist – und trotzdem glänzend und frisch. Victoria fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben lebendig, diesen ganzen Perfektionismus braucht sie nicht mehr, er hat sie starr gemacht. Victoria empfindet eine erwachsene Liebe und ein erwachsenes Glück, eines, das nicht zu toppen ist. Es speist sich keineswegs aus der Fähigkeit zum Kompromiss oder aus Furcht vor der Einsamkeit, sondern aus Liebe.


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