Hinter dem Autonomiesystem versteckt sich entweder eine überwertige Verlustangst und/oder eine überwertige Angst, vom Partner vereinnahmt zu werden. Häufig hängt das eine mit dem anderen zusammen: Der selbstwertschwache Überangepasste meint, er müsse, um dem Partner zu gefallen, all dessen Erwartungen erfüllen und sich verbiegen. Dies ruft in ihm jedoch Trotz und Widerstand hervor, weil er sich nicht selbst verlieren möchte. Um den Selbstverlust zu vermeiden, distanziert er sich vom Partner. Diese inneren Vorgänge bleiben jedoch häufig unbewusst – stattdessen spüren Betroffene nur starke Zweifel am Partner oder der Partnerin und fragen sich, ob er tatsächliche der oder die Richtige ist.
Die Angst, vereinnahmt zu werden, ist eine reine Projektion – also eine innere Befürchtung, die man sozusagen dem anderen in die Schuhe schiebt. Sie resultiert aus der tiefen Empfindung, sich den Erwartungen eines Partners anpassen zu müssen. Die Betroffenen haben als Kinder nicht gelernt, dass sie eine Beziehung mitgestalten können, sondern, dass sie sozusagen stillhalten und die Beziehung über sich ergehen lassen müssen. Sobald sie ihren Partner also sicher haben, mutiert dieser in ihren Augen zum Feind, der sie manipulieren und vereinnahmen will. Die einzige Gestaltungsfreiheit, die sie wahrnehmen können, ist der innere und äußere Rückzug aus der Beziehung.
Die einengenden Gefühle tauchen aber psychologischerweise erst auf, wenn die Partnerschaft verbindlicher wird. Wobei die Definition von Verbindlichkeit je nach Schweregrad der Bindungsangst sehr unterschiedlich ausfallen kann. Manche brechen schon beim Flirten ab, andere ziehen sich erst nach der Hochzeit zurück. Der Rückzug erfolgt jedenfalls immer dann, wenn sich bei der oder dem Betroffenen subjektiv der Eindruck einstellt: »Jetzt wird‘s ernst«, bzw. »Hier komme ich nicht mehr raus!«.
Wer sich hingegen in der passiven Rolle befindet, so wie Julia, meint fälschlicherweise, er habe die ganz große Liebe gefunden und könnte ohne diesen Menschen nicht leben bzw. würde nie wieder jemanden finden, mit dem er so glücklich werden könnte. Ist das Bindungssystem stark aktiviert, wird der Partner maßlos idealisiert. Die Betroffenen fühlen sich geradezu süchtig, ohnmächtig und ausgeliefert. Ich wiederhole: Diese Art der Abhängigkeit hat mit Liebe nichts zu tun.
Ein Happy End kann es sowohl für Julia als auch für Robert geben. Wie das geht, ist der Inhalt dieses Buches.
Stefanie Stahl
Jeder ist beziehungsfähig: Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe
ISBN: 978-3-424-63139-5
Verlag: Kailash