beziehungsunfähig – was es bedeutet und ob es dich oder deinen Partner betrifft

Beziehungsunfähig ist kein Schicksal, beziehungsunfähig ist nicht einmal eine Diagnose, sagt Paartherapeut und beziehungsweise-Chefredakteur Eric Hegmann.

Jedes Scheitern verletzt unser Selbstwertgefühl. Und wir führen heute ein Vielfaches an Beziehungen als unsere Eltern, Großeltern und Groß-Großeltern. Einige dauern Jahre, andere nur Monate oder Wochen oder auch nur zwei Dates. Je mehr solcher Beziehungen wir führen, umso mehr Trennungen erleben wir. Und jede Trennung sorgt für eine Verletzung des Selbstwertes. Und wie wir wissen: Verletzter Selbstwert steuert die Schutzstrategien, die sich in Bindungsangst und Verlustangst zeigen. „Ich kann mich nicht binden“ ist eine solche Strategie ebenso wie „Ich kann nie wieder vertrauen.“ Das sind ganz typische Überzeugungen, die die Partnerwahl vieler Singles heute sabotieren.

Beziehungsunfähigkeit, kann man was dagegen tun oder ist es hoffnungslos?

Wir sind heute fast 24 Stunden online, da ist es vermutlich ein Segen, dass wir Liebe dort auch finden können. Ob das scheinbare Überangebot von Tinder-Matches entscheidungshemmend ist, hat eher mit der Nutzung als mit dem Medium zu tun. Gerade bei Tinder geht es doch eher um Zeitvertreib und Bestätigung des Ego als um Partnersuche. Grundsätzlich bietet Online Partnersuche die Chance,. Menschen zu treffen, denen man sonst nie begegnet wäre. Es liegt an jedem selbst, was er oder sie daraus macht.

Beziehungsunfähig ist für mich ein Unwort. Vor allem aber ist es keine Diagnose. Kein seriöser Arzt, Psychologe oder Therapeut würde eine solche Aussage machen. Zugegeben, nicht jeder Mensch hat das gleiche Beziehungspotential, das heißt, es gibt durchaus Egoisten, Pessimisten und aufbrausende oder aggressive Zeitgenossen, die einfach nicht mitbringen, was es braucht, um es mit ihnen lange in einem Raum auszuhalten. Aber um die geht es nicht, sondern um all jene mit ganz normalen Bedürfnissen nach Nähe, nach Intimität, nach Geborgenheit und Zuneigung, die niemanden finden, die immer wieder an die Falschen geraten, die sich vor allem in die verlieben, die keine Beziehung wollen oder sich nicht in die verlieben können, die Interesse an ihnen zeigen. 

Die häufigsten Trennungsgründe sind mangelnde Kommunikation, also sich auseinander zu leben und als Reaktion darauf Untreue. Daraus lässt sich leicht schließen, woran Paare arbeiten sollten: An offenen Aussprachen über ihre Wünsche und Hoffnungen auch noch nach vielen Jahren Beziehung. Paartherapie ist deshalb auch in erster Linie Hilfe, solche Gespräche führen zu können. Nicht der Therapeut hat die Lösung, die Partner sind die Experten, sie benötigen meist Unterstützung, ihre Expertise anzuwenden.

Beziehungsfähigkeit ist eine Frage des Vertrauens

Mit jeder Zurückweisung und Enttäuschung verstärken oder entwickeln sich zwangsläufig Schutzstrategien. Allen ist gemeinsam, dass sie wahre Bindung verhindern, weil sie von Angst geprägt sind, verletzt zu werden. Diese Angst zu überwinden ist die eigentlich Kunst der Partnersuche und die große Herausforderung auch in einer Beziehung selbst. Es braucht Mut und Vertrauen. Nicht nur gegenüber anderen, auch gegenüber sich selbst. Am Ende entscheidet der Selbstwert über den Erfolg in der Liebe, denn der Selbstwert ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Bindungsverhaltens, das unsere Partnerwahl und unseren Wunsch nach Nähe und Distanz steuert.

Es scheint so, als wären beim Online Dating jene Menschen besonders erfolgreich, die auch offline erfolgreich wären. Und umgekehrt sind diejenigen nicht erfolgreich, die offline ebenfalls Schwierigkeiten bei der Partnersuche haben. Es ist daher bis auf einige technische Dinge wie das richtige Profil auszufüllen online genauso wie offline – und streng genommen ist das Auftreten, der Stil und die Kommunikation bei einem Date nichts anderes. Ich trenne deshalb bei der Beratung von Singles nicht wirklich nach Online oder Offline-Suche, sondern nach erfolgreichen und nicht erfolgreichen Strategien. Zu denken, der Erfolgsfaktor sei Attraktivität, ist meiner Erfahrung nach jedoch zu kurz gedacht.

Es geht vielmehr um Optimismus, um Selbstvertrauen, um Mut und um Umgang mit Zurückweisung. Ich denke: online wie offline sorgt unser Bindungssystem dafür, ob wir passende oder weniger gut passende Partner wählen. Je ängstlicher, umso eher gerate ich an vermeidende Typen (und umgekehrt), die zunächst faszinieren, dann aber in der Paar-Dynamik nicht passen. Je sicherer mein Bindungsverhalten, umso einfacher kann ich mich verlieben und Liebe zulassen und auch später in einer Beziehung akzeptieren, dass der Partner andere Bedürfnisse hat als ich. Und das erlebe ich dann nicht als Bedrohung, sondern als Ergänzung und Bereicherung. Eine solche Haltung ist dann wahrlich beziehungsfähig.

Beziehungsfähig lässt sich lernen

Ich denke, der Bedarf ist groß, mehr über Partnersuche und Beziehungsleben zu erfahren. „Warum bin ich Single? Warum gerate ich immer an die Falschen?“ Das sind Fragen, die sich viele Menschen stellen und viel zu oft wird dann nur von zu hohen Ansprüchen, dem unglücklichen Beuteschema oder womöglich von Beziehungsunfähigkeit gesprochen. Oder welche Fragen sollte ich stellen, wenn ich mich entscheiden möchte, ob ich lieber in einer Beziehung bleibe oder lieber gehe? Worauf kommt es bei Paarkommunikation an? Diese Themen können Menschen in der Paarberatung oder Paartherapie oder bei einem Single-Coaching heute ansprechen. Oder sie nutzen Online Kurse, die Hilfe zur Selbsthilfe geben. Online Kurse sind die neuen Ratgeber-Bücher, nur multimedial und mit viel mehr Möglichkeiten. Beziehungsunfähig ist ganz gewiss kein Schicksal.


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