Künstler sein ist nicht verkehrt, im Gegenteil. Wir reichern die Realität, die sich uns darbietet, mit unserer eigenen Erfahrung an, mit unserer Wahrnehmung, unserem einzigartigen Blick. Und durch unseren von der eigenen Vergangenheit angereicherten Blick legen wir in den anderen und zugleich in diese mysteriöse, magische Sache, die da gerade zwischen ihm/ihr und uns entsteht, Dinge hinein, die da draußen in der „echten, realen Welt“ gar nicht existieren, weil sie nur im Verstand oder Herzen leben können: Vertrauen etwa, Wohlwollen, Toleranz, Offenheit, Verliebtheit, Liebe und viele andere wundervolle Dinge mehr.
Aber Künstler müssen sich auch bewusst sein, dass sie einen eigenen Stil haben, einen eigenen Geschmack, Vorlieben und Aversionen. Sie blenden die Realität gerne mal aus, wenn sie nicht gut zu den eigenen Vorstellungen passt. Und manchmal sogar auch dann, wenn sie eigentlich ganz prima passt! Das ist der Grund, warum sich Menschen beim Dating zwar in sehr kurzer Zeit sehr intensiv kennenlernen können und sich trotzdem in vielerlei Hinsicht noch gar nicht kennen. Denn Kennenlernen ist etwas, das nicht nach einigen Monaten oder Jahren der Bekanntschaft mit einem anderen geliebten Menschen endet. Kennenlernen tut man sich ein Leben lang. Und viele spannende Erfahrungen macht man doch gerade dann, wenn langsam die Fassade bröckelt, wenn man sich traut, ganz genau hinzusehen, langsam fähig wird, die eigenen Vor-Bilder auszublenden und den anderen so zu sehen, wie er wirklich ist – soweit unsere beeinflusste Wahrnehmung das eben zulässt.
Dann sehen wir in die Tiefe. Starren wir nicht mehr gebannt auf unsere Staffelei. Hören wir auf, ein Bild zu malen und es stetig zu verfeinern, auszubessern. Dann nämlich fangen wir an, den anderen einfach zu sehen. Und das, was wir sehen, zu lieben.
Die Postkarten-Übung
Es ist spannend zu erfahren, welche unterschiedlichen „Realitäten“ in zwei Menschen entstehen können – besonders dann, wenn eine Seite mehr sieht oder weiß als die andere. Es gibt eine bekannte Übung, die dies wunderbar veranschaulicht und sich auch wunderbar als Paar (oder z.B. mit der besten Freundin) durchführen lässt. Zwei Personen bringen zum Treffen jeweils einige Postkarten (z.B. aus dem letzten Urlaub) mit, die der andere wahrscheinlich noch nie gesehen hat. Dann setzt man sich Rücken an Rücken. Eine Person beginnt nun damit, dem anderen das Bild einer Postkarte zu beschreiben; natürlich dürfen dabei Fragen gestellt werden. Einzige Bedingung: Beschrieben wird nur mit Worten. Wenn die zuhörende Person schließlich glaubt, das Postkartenmotiv „genau vor Augen“ zu haben, drehen sich beide wieder einander zu und die zuhörende Person darf sich die „echte Postkarte“ ansehen, was nicht selten mit viel Erstaunen verbunden ist. Anschließend werden die Rollen getauscht.
Eine wunderbare Übung, um zu erkennen, wie sehr wir alle in unseren eigenen Bildern leben.