Mit mehr Achtsamkeit die eigenen Bedürfnisse erkennen

Bedürfnisse haben wir alle, zum Beispiel nach Anerkennung, Intimität, Nähe, Sicherheit oder Geborgenheit. Aber können wir unseren Bedürfnissen auch immer so nachgehen, wie wir uns das wünschen würden? Unsere Autorin Nadine Primo über ihren persönlichen Weg

Es sollte das Normalste auf Welt sein, seinen Bedürfnissen nachzugehen, aber ein besonders starker Drang nach Anerkennung oder Nähe kann schnell bedürftig wirken und ist in der Gesellschaft als vergleichsweise schwache Charaktereigenschaft gebrandmarkt. Jemand, der “klettet” oder ständig auf die Bestätigung anderer angewiesen ist wirkt schnell anstrengend und wenig selbstbewusst. Bedürfnisse zu erfüllen ist jedoch eines der schönsten Gefühle, egal ob sich selbst oder für jemand anderen.

Versteht mich nicht falsch, erst wenn diese Aufgabe zu einer Herausforderung wird und das Gegenüber sich undankbar oder beratungsresistent zeigt, wird die Erfüllung seiner Bedürfnisse zur Last. Aber andersherum fällt es uns oftmals schwer, Bedürfnisse klar und direkt zu äußern und das ist auch nicht gerade einfach. Warum ist das so? Vielleicht, weil wir niemandem zur Last fallen wollen und denken, dass wir in erster Linie selbst verantwortlich dafür sind, unsere Bedürfnisse zu befrieden, unser Verlangen zu stillen.

Gefühle ansprechen und Bedürfnis offen kommunizieren.

Mir selbst fällt es auch nicht immer leicht meine Bedürfnisse auszusprechen. Zum Beispiel, wenn ich aus meiner eigenen Unsicherheit heraus, das Gefühl bekomme, zu wenig Wertschätzung zu erfahren. Das ist ein wiederkehrendes Muster in all meinen sozialen Beziehungen, egal ob familiär, freundschaftlich oder romantisch. Ich neige dann dazu mein Umfeld zu kritisieren und für meine schlechte Laune verantwortlich zu machen. Alles, was sie versuchen, um meine Laune zu bessern, scheint nicht genug. Das muss ein sehr ernüchterndes und zugleich zehrendes Gefühl für die Person sein. Dabei könnte ich doch einfach direkt ansprechen, dass ich mich gerade unsicher fühle und mir selbst nicht genug Bestätigung, bzw. ein Gefühl von Sicherheit, vermitteln kann und daher besonders viel Welpenschutz nötig habe… oder ein paar nette, aufbauende Worte. Bestätigung eben. Das geht vielen so, zumindest erlebe ich es selbst immer wieder im Freundes- und Bekanntenkreis. Der eigene Frust kann schnell zum Auslöser für unnötige Reibereien und Konflikte werden, die an der Oberfläche ausgetragen werden und eigentlich für einen ganz anderen (eigenen) Konflikt stehen.

Aber wie bin ich mir dessen bewusst geworden? Der Tatsache, dass einige meiner sozialen Konflikte in meiner inneren Unruhe oder in unbefriedigten Bedürfnisse, zum Beispiel nach Anerkennung und Sicherheit, begründet lagen. Es waren ziemlich genau zwei Ereignisse, die dazu geführt haben.

Auf einer meiner Reisen begann ich mit Meditation und fing an mich für buddhistische Philosophie zu interessieren. Fortan meditierte ich regelmäßig und hörte auf diese Weise immer öfters in mich hinein. Im Alltag nahm ich Situationen auf einmal anders wahr – achtsamer. Entscheidungen traf ich immer öfters nach meinem Bauchgefühl und vertraute auf meine innere Stimme. Ich nahm mir regelmäßig Auszeiten vom Großstadttrubel und jobbedingtem Reisen.

Neue Ort, neue Menschen und immer wieder neue Situationen. Ich fokussierte mich mehr und mehr auf mein Schreiben, machte mich selbstständig, ging meinem Bedürfnis kreativ produktiv zu sein nach.

Dann reiste ich einen Monat allein auf Sri Lanka, ging eine Woche ins Schweigekloster und meditierte jeden Tag zehn Stunden. Danach reiste ich durch den Norden und das Landesinnere, bis es mich zuletzt in ein kleines Surfer-Dorf im Westen verschlug, wo ich nochmal zehn Tage in einem Hostel, dass einer kommunenähnlichen Gemeinschaft glich, verbrachte.

Das sollte das zweite Ereignis gewesen sein, erst der Beginn meiner Meditations-Praxis und im Folgenden die Reise nach Sri Lanka. Denn hier wurde mir bewusst, warum ich mich so oft in meinen Beziehungen nicht genug wertgeschätzt oder anerkannt gefühlt hatte. Ich unterdrückte meine Abenteuer- und Reiselust in vielen Momenten. Ich gab mich öfters mit Kompromissen zufrieden, die vielleicht nicht zu 100 Prozent meiner Freizeit- oder Tagesgestaltung entsprachen. Meistens stimmte ich zu oder gab nach, vor allem wenn ich sonst um Harmonie und Frieden fürchtete.

Die fehlende Wertschätzung betrifft viele

Irgendwie haben wir doch alle in manchen Momenten das Gefühl, klein beizugeben oder im Nachhinein vielleicht etwas zu kompromissbereit auf Kosten der eigenen Bedürfnisse gewesen zu sein. Zumindest kommt es mir so vor, wenn ich mich mit Menschen unterhalte oder sie beobachte. Frauen werden beispielsweise auch heute noch (in einigen Fällen) dazu erzogen, die eigenen Bedürfnisse hintern denen ihrer Partner zurückzustellen oder sich einfach anzupassen. Am Ende heißt es oft, dass sie sich einfach zusammenreißen sollen.

Einfaches Beispiel: Welche Frau hat sich nicht schon einmal ungerecht oder unverstanden gefühlt, wenn sie mit PMS oder Unterleibskrämpfen und starken Blutungen zu kämpfen hatte? Gerade am Arbeitsplatz oder in der Schule, vielleicht auch Zuhause, weil sie dort vom eigenen Partner oder Geschwistern als anstrengende Zicke diffamiert wurde. „Reiß dich zusammen, geht jeder Frau jeden Monat so.“, „Ieh, wie ekelig. Ich will davon nichts hören und es erst recht nicht sehen.“ – kleine Anekdoten aus dem Periodenalltag ein jeder geschlechtsreifen Frau.

Danke für nichts!

Ironischerweise sind Bedürfnisse aber auch nicht besonders männlich – im Gegenteil! Auch Männer erfahren bereits in ihrer Kindheit, dass Männertränen gesellschaftlich einfach nicht so gern gesehen sind. Spannend wird es jedoch auf sexueller Ebene. Ein ausgeprägter Sexualtrieb ist männlich und kein Mann wird dafür verurteilt, besonders oft das Bedürfnis nach Sex zu haben – wir Frauen hingegen schon. Unfair!

Es ist also weder für Frauen noch für Männer besonders schick Bedürfnisse auszusprechen. Aber nur Sprechenden kann geholfen werden und der Ton macht (nicht nur) die Hintergrundmusik. Wer kennt es nicht? Eine nette Bitte schlagen wir selten ab, eine harsche Aufforderung jedoch schon. Im ersten Fall fühlen wir uns gebraucht und wertgeschätzt, im zweiten Fall ausgenutzt oder angegriffen.

Gerade in Beziehungen gleichen Bedürfnisse manchmal einem Drahtseilakt, denn keiner will ungerecht behandelt werden oder den Kürzeren ziehen, zu viele Kompromisse eingehen… Aber warum ist es so schwer den richtigen Ton zu treffen? Vielleicht, weil wir nicht wirklich gelernt haben, auf unsere Bedürfnisse zu hören geschweigen denn uns ihnen bewusst zu sein. Wie sollen wir sie auf eine nette, verständliche Art und Weise kommunizieren? Woher sollen wir wissen, ob sie angemessen oder unverhältnismäßig sind? Ist es nicht die Kunst des Achtsam-sein, sich dessen erst einmal bewusst zu werden? Bedürfnisse haben unglaublich viel mit Achtsamkeit zu tun, denn viele von uns, ich schließe mich da gar nicht aus, handeln im stressigen Alltag, oder gefühlstechnisch stürmischen Zeiten, wenig bedürfnisorientiert. Unbewusst, manchmal mit Absicht, um zu verdrängen. Manchmal ausversehen, weil sie sich einfach gar nicht mehr spüren.

Im Alltag gibt es weitere Situationen, beispielsweise wenn wir auf der Arbeit jedem gefallen oder besonders gut performen wollen. Vielleicht haben wir auch einfach nie gelernt, uns selbst an erste Stelle zu stellen – uns selbst zu lieben. Ein gewisses Maß an Anerkennung und Bestätigung braucht jede/r. Das ist völlig normal und auch in Ordnung, schließlich brauchen wir eine gewisse Portion Begeisterung von außen, damit wir uns in unserem Handeln und Auftreten bestätigt führen. Die Anderen sind immer nur ein Spiegel unserer selbst und so lange wir gerne in diesen Spiegel schauen und mit dem Ergebnis zufrieden sind, kehrt ein befriedigendes Gefühl und Ruhe in unser Inneres ein. Sich ständig in Unsicherheit zu wägen und mit Konflikten konfrontiert zu werden, weil man überall aneckt oder keinerlei Liebe/Zuneigung erfährt, kratzt logischerweise am Selbstbewusstsein und würde den (emotionalen) Alltag nur ungemein beschweren. Und auf einem überfüllten Planeten lässt es sich schwer als Einsiedlerkrebs leben, darüber hinaus ist der Mensch ein Herdentier und der Drang nach (sozialer) Anerkennung tief in unserem Naturell verankert. Die Dosis macht das Gift. Bin ich ständig auf andere angewiesen, weil ich mich allein entscheidungsunfähig und verloren fühle? Zu viel. Bin ich lediglich ab und an darauf angewiesen, dass mich jemand in meinen Entscheidungen bekräftigt und höchstens mit einem Rat zur Seite steht? Völlig okay.

Ein schöner Zusatz – nicht überlebenswichtig.

Ja, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein, bedeutet mit sich im Einklang zu sein. Selbstliebe ist der Schlüssel zu innerem Frieden. Dieser kann also nur erreicht werden, wenn wir uns selbst lieben und dazu in der Lage sind, unsere Bedürfnisse selbst zu erfüllen oder aber ehrlich und ohne Angst vor Zurückweisung um Hilfe bitten. So lange wir andere nicht für ihre Bedürfnisse verurteilen, werden wir es auch nicht. Bedürfnisse sind menschlich – das sollten wir akzeptieren und uns einfach daran erfreuen, wenn wir jemanden eine Freude machen können und dadurch an seinem Glück teilhaben. Teilhaben, das ist wichtig -Wir sind nicht allein dafür verantwortlich.

Allein verantwortlich sind wir nur für uns… und unsere Bedürfnisse. Sobald wir das verinnerlicht haben und achtsam sind, erkennen wir auch in unserem Gegenüber einen Menschen, der sich mitteilt. Hierbei geht es aber um mehr als das Gesagte. Denn oftmals sind es die kleinen Zwischentöne, Betonungen oder reflexartigen Reaktionen, die uns einen Hinweis darauf geben, was unser/e Freund/in, jemand aus der Familie, oder die Kollegen, vielleicht auch der Kollege auf der Arbeit, uns wirklich mitteilen will.

Vielleicht fühlen wir uns dann zukünftig auch nicht mehr so schnell persönlich angegriffen, weil wir verstanden haben, dass hinter vielen kritisierenden oder impulsiven Äußerungen, nur ein unerfülltes Bedürfnis steht.


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