Das gemiedene Thema: Sex
Sehr schnell kam dann auch das Thema Streitkultur ans Licht. Eine Beziehungsexpertin erlebte lautes Türenknallen als äußerst befreiend. Eine andere Therapeutin litt darunter, bei Diskussionen mit dem Partner immer Recht haben zu wollen. Überraschenderweise kam auch schnell das von den Profis gern gemiedene Thema Sex auf dem Tisch. Nirgends scheint das Selbstbild mehr infrage gestellt zu werden als bei diesem Thema. Kein Wunder, denn das Intimste und Privateste will man ja auch nicht mit jedem teilen.
Erstaunlich offen ging es dann zur Sache. Ein Paar outete sich darin, ihre sexuelle Erfüllung in sinnlichen tantrischen Erfahrungen zu erleben. Ein anderes Paar propagierte die offene Beziehung. Ein Großteil der Paare sprach aus eigener Erfahrung, dass das sexuelle Interesse im Schnitt nach vier Jahren vorbei ist. Gegen dieses Verfallsdatum protestierte zur Überraschung aller ein älteres Ehepaar, das lange Zeit während des Sex-Talks geschwiegen hatte. Entgegen der Behauptung, dass der Sex im Alter abnimmt, bestätigten beide mit einem breiten Grinsen im Gesicht, dass er nach dreißig Jahren Ehe sogar noch besser wird. Zwar stoße man im Alter körperlich schneller an seine Grenzen, dennoch sei man bestens mit dem Körper des anderen vertraut und kenne somit genau die Vorlieben. Diese Aussage trieb vor allem einer jungen Therapeutin Tränen in die Augen. Sie hatte ihre sexuelle Erfüllung bislang eher in rasch wechselnden Partnerschaften erlebt. Mir wurde schnell klar, dass selbst bei den Experten das Thema völlig unterschiedlich behandelt und gelebt wurde – allerdings nie dogmatisch oder wertend.
Umgekehrt: Ist die Beraterkompetenz abhängig von einer gut funktionierenden Beziehung?
Auf besagtem Seminar war von den Paaren in der Regel ein Partner vom Fach, der andere nicht. Dennoch waren bei vielen Übungen die Nicht-Profis dazu eingeladen, auch mal in die Beraterrolle zu schlüpfen. Mit einem überraschenden Ergebnis: Die Nicht-Profis erzielten ebenso Erfolge bei den Klienten wie die Experten. Auch kam heraus, dass Experten und Fachfremde gleichermaßen in Schwierigkeiten gerieten, wenn sie mit einem Problem konfrontiert wurden, in welchem sie selber feststeckten.
Fazit: Ein Berater ist also auch nur ein Mensch. Dennoch wurde ersichtlich, dass eine kompetente Beratung zu Beziehungs- und Sexthemen nicht unbedingt immer mit dem eigenen Liebesleben zu tun haben muss. Einer der Nicht-Profis hatte sich geoutet, jahrelang gar keinen Sex gehabt zu haben. In der Rolle des Beraters blühte er jedoch mit treffsicheren Interventionen zur Höchstform auf. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die unterschiedliche Beziehungserfahrungen hinter sich haben – angefangen von 40 Jahren Ehe bis hin zu mehrfach geschieden – und die dennoch oder gerade deswegen auf ihrem Gebiet als Beziehungs- oder Sextherapeuten immer wieder große Erfolge erzielen.
Und selbst?
Wie eine glückliche Beziehung und ein erfülltes Sexleben aussehen, ist immer etwas Subjektives. Ich fände es anmaßend zu sagen, dass ich als Paar-Coach eine bessere Beziehung führe oder besseren Sex habe. Meine Klienten erhalten von mir auch kein Patentrezept nach dem Motto „So geht’s und nicht anders.“ Ich versuche eher Impulse zu geben, die aus Hamsterrädern und Sackgassen heraushelfen, um eigene Lösungsansätze zu finden. Wenn nötig, bringe ich auch gerne eigene Erfahrungen mit ein.
Ebenso profitiere ich von den Erfahrungen meiner Klienten. Diese haben mein eigenes Liebesleben maßgeblich inspiriert. Auch wenn ich weder verheiratet noch geschieden bin, nicht jede Sexpraktik und jeden Fetisch mitgemacht habe, so habe ich dennoch im Lauf meiner Beraterjahre eine äußerst liberale Einstellung entwickelt, was meine eigene Beziehung und mein eigenes Sexleben betrifft. Die ständige und beruflich bedingte Auseinandersetzung damit, hat gewiss eigene Entwicklungsprozesse beschleunigt. Inzwischen werden meine „blinden Flecken“ für mich schneller sichtbar und manch verstaubter Grundsatz verliert rascher an Gültigkeit. Aber selbst ich als Paar-Berater habe trotz Expertise immer wieder die leidvolle Erkenntnis, dass es bis zur völligen Erleuchtung immer noch ein Stückchen hin ist.