Wir brauchen Liebe, um nicht verloren zu gehen

Michael Mary ist einer der bekanntesten Paarberater Deutschlands. Ein Gespräch anlässlich seines neuen Buches “Liebe will riskiert werden” über die Notwendigkeit, sich auf den Partner einzulassen

Eric Hegmann: Liebe und Risiko: Ist das nicht ein Widerspruch?

Michael Mary: Aus der heutigen Paarliebe ist das Risiko nicht wegzudenken. Heute, da materielle Aspekte einer Paarbeziehung in den Hintergrund treten, suchen Partner in ihrer Beziehung vor allem Qualität und Intensität. Sie wollen sich das Gefühl der ‚Ganzliebe‘ vermitteln. Damit dieser Eindruck entstehen kann, müssen sie sich einander offenbaren. Diese Selbstoffenbarung ist mit dem Risiko der Ablehnung verbunden – und mit der Chance auf erneute ‚Ganzliebe‘. Eine Garantie gibt es aber nicht, das Risiko bleibt und belebt die Beziehung.

Die Zweisamkeit bietet Sicherheit vor einer sich beängstigend schnell verändernden Welt. Wie kann ein Paar Mut und Lust am Risiko pflegen?

Man kann nur als der geliebt werden, der man ist, wenn man sich als dieser zeigt. Es gibt also keinen Weg um die gegenseitige Offenbarung und Zuwendung herum. Insofern ist es weniger eine Frage der Lust oder des Mutes, sondern der Notwendigkeit.

Einfache Antworten erleichtern das Leben. Welche einfachen Antworten gibt es für heutige Paare denn noch?

Es geht in der Paarliebe nicht darum, den Partner tatsächlich ‚ganz‘ zu lieben. Das ist schlicht unmöglich, weil man sich niemals ‚ganz‘ kennenlernt. Aber der Eindruck der Ganzliebe kann entstehen und – wenn Differenzen ihn stören – durchaus wieder hergestellt werden. Indem man immer wieder ‚Fünfe gerade sein lässt‘. Insofern ist Paarliebe immer eine Vereinfachung, man könnte auch sagen, eine Komplexitätsreduzierung.

Öffnung und Zuwendung. Mehr brauchen Paare nicht zu tun.

Warum und wie lieben Paare heute anders als früher?

Heute lieben Paare vor allem emotional. Das war früher anders, da war die Paarbeziehung eine Versorgungsgemeinschaft. Später wurde daraus eine soziale Nische, aber auch dieser Aspekt verliert an Bedeutung. Es geht auch immer weniger um persönliches Wachstum etc. Heute geht es um die emotional/leidenschaftliche Liebe, um die gegenseitige Bestätigung des Selbst.

Was ist dazugekommen?

Die Notwendigkeit, einandern vorbehaltslos zu bestätigen, ergibt sich aus der zugespitzten Individualisierung unserer Gesellschaft. Diese beschert den Einzelnen eine starke Isolation im Selbst. Niemand – außer dem Liebespartner – hat die Kraft und Motivation, sich dem Innersten des Individuums, jenem Bereich, in dem er völlig allein gelassen ist, zuzuwenden.

Die Liebe als größtes Glück: Was kann Liebe leisten und was nicht?

Die Liebe leistet nichts, sie existiert nicht unabhängig von den Partnern. Die Partner leisten etwas, sie kommunizieren Liebe, also: Öffnung und Zuwendung. Mehr können sie nicht tun, aber mehr brauchen sie auch nicht zu tun. Individuen brauchen Liebe, um sich selbst nicht verloren zu gehen. Daraus ergibt sich die Bereitschaft, sich auf einen Partner einzulassen.

Jede Beziehung erlebt Veränderungen von innen und außen. Wie kann ein Paar das Glück bewahren?

Die emotional/leidenschaftliche Liebe ist auf ‚sich zeigen und bestätigen‘ angewiesen. Wenn ein Paar das tut, gibt es gute Chancen, dass die Liebe erhalten bleibt. Eine Garantie gibt es nicht. Ein berechenbares Glück könnte nicht als Glück erlebt werden.

Allen vielfältigen Beziehungsmodellen und Medienberichten darüber zum Trotz suchen vor allem die jungen Paare die exklusive, lebenslange Liebe. Erleben Sie das auch so? Haben Sie eine Vermutung, warum?

Ja, tatsächlich haben gerade junge Paare diese Idee einer lebenslangen Liebe im Kopf. Aber nur dort. Im Bauch befinden sich andere, grundlegendere Bedürfnisse. Wenn es hart auf hart kommt, setzt sich der Bauch immer gegen den Kopf durch. Mit anderen Worten: Im Ernstfall ziehen sie die Qualität der Beziehung ihrer Dauer vor. Warum auch sollten sie anders handeln? Das würde nur Sinn machen, wenn sie einander zum ‚Überleben‘ bräuchten und nicht zum lieben.

Liebe will riskiert werden_Cover_Michael Mary Michael Mary
Liebe will riskiert werden
Verlag: Ariston


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