Stefanie Lohaus und Tobias Scholz sind Eltern geworden. Vor 96 Stunden. Auszug aus ihrem Buch “Papa kann auch stillen”
Nun ist Johann da. Vor der Geburt hatte ich mir ausgemalt, wie ich mich fühlen würde: verliebt, glücklich. Es ist irgendwie ganz anders und doch so, wie ich dachte. Die Gefühle für ihn sind überwältigend, viel stärker, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Alle meine Sinne sind nur auf ihn gerichtet. Der unbeschreiblich süße Neugeborenengeruch. Die zarte papiergleiche Haut, unter der sein Herz tuckert. Seine Füße, das kleine Näschen und der winzige Mund, aus dem er unregelmäßig atmet. Was, wenn er plötzlich aufhört zu atmen? Die Angst, dass ihm irgendetwas zustoßen könnte, ist riesig. Mein erster Besuch mit ihm draußen auf der Straße – vier Tage nach der Geburt – lässt mich die Welt mit seinen Augen sehen, die alles zum ersten Mal erblicken. Und diese Welt kommt mir sehr laut, sehr dreckig und sehr unfreundlich vor. Die Metapher vom Großstadtdschungel macht plötzlich unglaublich viel Sinn: Nur dass vor unserer Haustür keine Tiger und Schlangen lauern, sondern Autos und betrunkene Touristen. Bei jedem Martinshorn zuckt der Kleine zusammen und ich gleich mit.
Ist das jetzt Mutterliebe?
Um jemanden wirklich zu lieben, muss ich ihn doch kennen! Das Baby vor mir kenne ich aber erst seit 96 Stunden. Viele Menschen glauben ja, dass ich durch die Schwangerschaft mein Kind »kennen« müsste, aber das tue ich nicht. Ich habe zwar ein paar Tritte von innen bekommen, was schon irre war. Aber ich konnte es in meinem Bauch nicht sehen, nicht riechen und seine Haut nicht spüren. Ich wusste auch nicht, wie sich sein Weinen anhören würde, was es für einen Charakter hat, ob es einen Schnuller nimmt oder lieber am Daumen lutscht oder nichts von beidem. Das Baby ist für mich also genauso neu wie alle anderen Menschen auch, denen ich zum ersten Mal begegne. Nichtdestotrotz ist die ganze Erfahrung unglaublich intensiv. Ist das der Instinkt? Fühlen sich alle Frauen so? Fühlt Tobias das Gleiche? Nach der Geburt hat er vor Rührung geweint. Ich hingegen war erst mal froh, dass es vorbei war und ich nicht aufstehen musste, um Johann zu wickeln.
Auf diese Gefühle muss ich mir erst mal einen Reim machen, auf sie war ich unglaublich neugierig. Denn mit dem Mutterinstinkt ist es ja so eine Sache. Der Begriff kommt mir kompromisslos vor, so eingeschränkt. Angeblich bedeutet er, dass Mütter – und nur Mütter – automatisch wissen, was ihr Kind braucht. Ist das wirklich so? Zunächst einmal finde ich die Vorstellung, dass das kleine Würmchen in mir drin gewachsen sein soll, nach wie vor ziemlich verrückt. Selbst direkt nach der Geburt konnte ich schon gar nicht mehr glauben, dass das Kind in mir gewesen ist. So ähnlich wie ich immer noch nicht wirklich begreife, wie der Computer aus 0 und 1 Bilder und Musik generiert. Auch wenn ich technisch so ganz grob darüber im Bilde bin, wie es geht. Und ich muss zugeben, dass ich wenig über Babys weiß und auch ein bisschen unsicher bin. Einiges habe ich noch in Erinnerung aus einer Zeit, als meine Geschwister noch klein waren. Man muss den Kopf des Babys festhalten, damit er nicht abknickt. Aber der Rest? Auch im Geburtsvorbereitungskurs wird man nicht wirklich auf die Zeit »danach« vorbereitet, sondern eben vor allem auf die Geburt. Die ist ja schon an sich ein unglaublich aufregendes und unbekanntes Feld.
Ich weiß noch nicht mal, wie das mit dem Stillen gehen soll.
Dabei ist das doch angeblich die natürlichste Sache der Welt. Zum Glück zahlt die Krankenversicherung eine Hebamme, die jeden Tag vorbeikommt und uns alles erklärt: Stillen, Wickeln, Wiegen und wie man mit dem Nabelrest umgeht. Mit Instinkt hat das nichts zu tun, eher mit Lernen. Tobias ist immer dabei, wenn die Hebamme da ist. So konzentriert und wissbegierig habe ich ihn selten erlebt. In den ersten Tagen stürzt er sich mit Feuereifer auf den Kleinen. Er wickelt, macht und tut, während ich die meiste Zeit im Bett liege, lese oder Filme schaue. Mir tut noch alles weh, und ich bin noch nicht ganz erholt.
Drei Wochen nach der Geburt, Tobias ist gerade unterwegs beim Einkaufen, halte ich den schlafenden Johann im Arm, und mir wird zum ersten Mal richtig bewusst, dass ich ihn um nichts in der Welt aus meiner Umarmung entlassen will. Ich denke darüber nach, mit welchen Gefühlen ich Tobias seit der Geburt beobachte und wie sich hier und dort auch Argwohn bei mir meldet. Gestern zum Beispiel habe ich ihm zugesehen, wie er nach dem Wickeln vergessen hat, den etwas wunden Po einzucremen. Ich war spontan empört, sagte aber nichts und hoffte, dass Johanns Po sich nicht entzünden wird. Wirklich grotesk, welche kleinen Handlungen mit dem Baby mich jetzt aufhorchen lassen.
Gehen wir zum Beispiel zu dritt spazieren, dann werde ich sogar etwas eifersüchtig, wenn Tobi Johann im Tragetuch hat. Ich möchte immer ganz nah an meinem Kind sein und seinen wundervollen Geruch in der Nase haben. Wenn der Kleine weint, habe ich ehrlich gesagt schon den Eindruck, dass er sich bei mir schneller beruhigt. Ich habe sehr viel darüber gelesen, wie man Babys beruhigt, viel mehr als Tobias, da bin ich mir sicher. Auch bin ich natürlich die Ernährungsexpertin, das kommt durch das Stillen ja von alleine.
Hilfe, in mir steckt eine Über-Mutti!
Wie verträgt sich das jetzt mit unserem Vorhaben, uns das Baby zu teilen? Tobias hat sich mehrere Wochen von der Arbeit freigenommen, um von Anfang an dabei zu sein und gemeinsam mit mir zu lernen, wie man mit dem Kind umgeht. Und nun habe ich manchmal das Verlangen, alles lieber allein zu machen, denn ich kann es vielleicht doch besser. Hilfe! Tief drin in mir scheint eine Art Über-Mutti am Werk zu sein. Dabei wollte ich doch auf keinen Fall zur Glucke werden, die sich nur noch um das Kind kümmert und berufliche Ambitionen, Freunde und Hobbys über Bord wirft.
Aus der banalen Frage, wie man das Baby für einen gemeinsamen Spaziergang anzieht, entbrennt einige Wochen nach der Geburt ein handfester Streit. Ich weise Tobias ungefragt darauf hin, dass er Johann für einen sonnigen Herbsttag einpackt, als wäre es draußen tiefster Winter: »Der wird total schwitzen, im Kinderwagen ist doch noch der Daunensack«, sage ich und schaue mitleidig auf das dick eingemummelte Baby, das vor lauter Kleidungsschichten und Ganzkörperwollanzügen nicht mehr mit den Ärmchen rudern kann.
»Jetzt lass mich doch mal in Ruhe«, entgegnet Tobias ziemlich genervt. »Wenn du immer alles besser weißt, dann mach es doch einfach selbst.« Der kurze Streit endet damit, dass ich das Baby umziehe und allein mit ihm spazieren gehe, während Tobias sich grummelnd mit der Zeitung auf die Couch zurückzieht. Während des Spaziergangs komme ich ins Grübeln: Ich sehe mich total im Recht, merke aber auch, dass ich mich im Zaum halten muss, wenn unser Modell nicht schon in der achten Woche scheitern soll.
Wird jede Mutter zur Glucke?
Ich nehme unser Kompetenzgerangel und mein Gluckenproblem genauer unter die Lupe. In das Suchmaschinenfeld im Browser meines Laptops tippe ich: »Wird jede Mutter zur Glucke?« In einem Internetforum für Eltern lese ich über lauter Mütter von Einjährigen, die sich selbst als Glucken bezeichnen und sich gegenseitig darin beipflichten, dass ihre Kinder deswegen alle so toll entwickelt und unkompliziert sind, weil sie sich die ganze Zeit um sie kümmern. Dass sie das Kind gar nicht loslassen oder in die Kita (sie nennen das Fremdbetreuung) geben wollen. Und dass das doch ganz normale Mutterliebe sei. Frauen, die ihre Kinder auch mal abgeben, würden wider die Natur handeln, so lautet die hier vorherrschende Meinung. Unter einem anderen Kommentarstrang schätzen Frauen das Ganze problematischer ein. Sie sehen sich eher gefangen in der Rolle als Gluckenmutter. Eine Frau berichtet davon, dass sie sich nach der Geburt ihres dritten Kindes plötzlich viel mehr Sorgen um alle ihre Kinder macht und selbst den Elfjährigen kaum aus den Augen lassen will. Es seien die Hormone, die sie so mutieren lassen würden, sagt man ihr. Ich schlucke und überlege. Ist das, was wir vorhaben, vielleicht wirklich unnatürlich? Wollen Mütter nun mal automatisch rund um die Uhr bei ihren Babys sein? Für immer oder für möglichst lange Zeit? Wir planen doch, Johann mit einem Jahr zu einer Tagesmutter zu geben, damit wir beide wieder beruflich durchstarten können.
Maternal gatekeeping? Nicht mit uns.
Es gibt im Englischen einen Fachbegriff für Mütter, die den Vater davon abhalten, sich an der Kinderpflege zu beteiligen: maternal gatekeeping. Dieser Begriff drückt aus, dass Mütter als eine Art Türsteherin den Zugang zum Kind kontrollieren: »Heute darfst du ein bisschen ran, Papa, aber nur, wenn du die richtige Wickeltechnik benutzt.« Eine deutsche Langzeitstudie kam zu dem Ergebnis, dass etwa 20 Prozent der Frauen durch ihr Verhalten den Einsatz des Vaters im Familienleben behindern. Indem sie automatisch alles, was mit dem Kind zu tun hat, als ihre Aufgabe begreifen und den Vater bei dem, was er anstellt, kritisieren. »Lass mich mal machen, ich weiß schon, wie das geht.« So haben auch sie ihren Anteil an der klassischen Rollenverteilung in der Beziehung. In manchen Partnerschaften mag das ja auch durchaus gewollt sein. In unserer nicht.
Der amerikanische Forscher Ross Parker sagt: »Väter sind am Anfang exakt so weit involviert, wie die Frau es zulässt.« Die Kinder profitieren zweifellos von einer engen frühkindlichen Beziehung zum Vater. Aber diese kann nur gelingen, wenn die Eltern sich gut absprechen und die Mutter ihre maternal gatekeeping-Funktion aufgibt. Auf www.eltern.de gibt es eine recht aussagekräftige Umfrage zum Thema. Die Frage »Trauen manche Mütter den Vätern zu wenig zu?« beantworten 95 Prozent von über 1000 Teilnehmenden mit »Ja«. Darin besteht meines Erachtens das Problem der Gluckenmamas aus dem Elternforum: Sie kümmern sich hauptverantwortlich um das Kind, ohne Mann. Der ist bei der Arbeit. Diese Frauen hingegen sind seit der Geburt mehr oder weniger allein zu Hause, und sie möchten das so. Deswegen ist auch ihre Verantwortung dem Kind gegenüber besonders groß, weil sie die einzige Bezugsperson sind und sein wollen. Ob die Väter das Verhalten ihrer Frauen richtig oder falsch finden, steht hier nicht zur Debatte.
Vielleicht ist die Crux ja gar nicht der Mutterinstinkt der Frauen, sondern der unterentwickelte Vaterinstinkt ihrer Männer. Und vielleicht kann ich Tobias in unserem Arrangement seinen Vaterinstinkt zugestehen. Wir können einfach ein bisschen gemeinsam glucken. Dann kann das Über-Mutti-Ich vielleicht verschwinden. Aber warum habe auch ich solche Impulse? Rational haben wir uns ja ganz klar für 50/50 entschieden. Und rational bin ich weiterhin der Meinung, dass es der richtige Weg für uns ist. Wir wollen keine klassische Rollenaufteilung.
Und wie klappt die Rollenaufteilung? Lesen Sie dazu unser Interview mit Stefanie Lohaus und Tobias Scholz.
Papa kann auch stillen
Wie Paare Kind, Job & Abwasch unter einen Hut bekommen
Taschenbuch, Klappenbroschur, 224 Seiten, 12,5 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-442-15831-7
€ 8,99 [D] | € 9,30 [A] | CHF 13,50 * (* empf. VK-Preis)
Verlag: Goldmann