Zwischen Fremde und Geborgenheit
Kate gibt nach. Sie trottet zurück in die Küche, wo sie sich mit ihrem Smartphone an den Küchentisch setzt und die Tinder-App öffnet. Vier neue Superlikes und zwei Matches warten auf sie. Augenblicklich brodelt die Neugierde in ihr auf und sie schickt die ersten Flirt-Nachrichten an die fremden Boys ab. Als Antworten bekommt sie Komplimente für ihre hübschen Bildchen, auf denen sie sich in engen, viel zu knappen Höschen präsentiert. Ein Hauch von Bestätigung überkommt sie.
Zufrieden schleicht sie sich zurück ins Bett, wo sie unter seine Decke kriecht, ihren Kopf auf seine Brust legt und tief den vertrauten Geruch von Geborgenheit einsaugt. Sie fühlt sich gut. Irgendwie zufrieden.
Am nächsten Tag im Büro sind die Tinder-Typen von letzter Nacht schon wieder vergessen. Ihre Aufmerksamkeit legt Kate jetzt auf den neuen Auszubildenden, der eigentlich ein bisschen zu jung ist, ihr aber trotzdem eine neue Erfahrung versprechen könnte. Sie zwinkert ihm im Vorbeilaufen ein paar Mal zu, schickt ihn extra noch ein zweites Mal zum Kaffee kochen, damit sie noch einmal seinen kleinen Finger streifen kann, wenn er ihr die Kaffeetasse reicht. Sie würde ihn gerne fragen, ob sie ihn zum Essen einladen darf, aber sie ist schon mit einer guten Freundin in ihrer Lieblingskneipe verabredet, da wo man den stämmigen Kellner mit den tiefblauen Augen nicht mit Trinkgeld, sondern gutem Sex belohnt.
Niemand weiß, dass sie ein echtes Problem hat
Dass sie so ist wie sie ist, weiß eigentlich niemand. Niemand außer ich. Wie sollte sie es auch sonst jemandem sagen, ohne, dass sie gleich mit diversen Kraftausdrücken beworfen wird? Natürlich wird sie jeder als „Schlampe“ betiteln, natürlich wird das jeder tun. Wie sollen sie auch wissen, dass Kate verdammt nochmal ein Problem hat. Ein großes Problem. Und das dreht sich ausnahmsweise Mal nicht um Männer, sondern um sie selbst.
Kate hat große Angst vor Stillstand. Angst davor, dass das Leben eine einzige Routine wird, man Tag ein Tag aus dasselbe tut und diese Routine sich auf die Liebe überträgt. In Kates Worten: „die Beziehung einschläft“.
Sie hat es schon ein paar Mal beobachtet, nicht zuletzt bei ihren eigenen Eltern, die seit 25 Jahren so gut wie jeden Abend vor dem Fernseher verbringen, außer dem Sonntag, wo sie jedes Mal zu demselben Italiener gehen, ihr Vater eine Calzone und ihre Mutter eine Pizza Funghi bestellt. Wie immer eben.
Geprägt durch die Angst vor Stillstand, hat es Kate noch nie nur mit einem Mann ausgehalten. „Alles“, das konnte sie noch nie in nur einer Person finden. „Alles“, das war für Kate schon immer mehr: Mehr Dates, mehr Küsse, mehr Sex, mehr Männer eben. Ihre Angst vor Stillstand lässt sie nicht los. Und so geht das immer weiter. Immer weiter und weiter. Aber wie weit?
Kate weiß es nicht. Genauso wenig wie ich. Und wenn wir ehrlich sind, dann wollen wir es auch gar nicht wissen, denn wir wissen, dass es irgendwann weh tun wird, dass man ihr weh tun wird. Und das Schlimme ist, dass wir beide wissen, dass sie es verdient hat.