Nehmen Verlust- und Bindungsangst zu?
Bindungsangst ebenso wie Verlustangst nähren sich durch einen verletzten Selbstwert. Und der basiert auf negativen Glaubenssätzen und Überzeugungen wie „ich bin nicht wichtig“, „ich schaffe das nicht“ oder „ich falle zur Last“. Solche Glaubenssätze entstehen in der frühen Kindheit in der Beziehung zu den Eltern oder Bezugspersonen, sie werden aber im Leben auch beeinflusst durch die Erfahrungen in Liebesbeziehungen, also durch die eigene Beziehungshistorie. Wer einmal schmerzhaft erlebt hat, betrogen worden zu sein – ohne Vorwarnung, aus heiterem Himmel –, stellt alles in Frage: „Wie konnte ich das nicht bemerken? Was stimmt nicht mit mir?“ Der Selbstwert leidet, das eigene Empfinden auch, der Wahrnehmung wird nicht mehr vertraut.
Vermutlich haben Menschen noch nie so viele Liebesbeziehungen in ihrem Leben geführt, wie wir das heute tun. In der Jugend verliebt, dann geheiratet und zusammen bis zum Tod, das Modell ist nicht mehr üblich. Wir führen zwei bis drei feste Partnerschaften im Leben und zahlreiche kurze Beziehungen dazwischen. Und strenggenommen sind auch die Flirt-Beziehungen, wie sie zahlreich durch Dating Apps entstehen, kleine Partnerschaften. Sie sind vielleicht nicht so verbindlich, doch sie fühlen sich häufig – zumindest für einen Partner – so an. Und wenn sie beendet werden, dann ist der Trennungsschmerz unabhängig von der Beziehungsdauer dennoch groß.
Es ist also überhaupt kein Wunder, dass Menschen – bewusst und unbewusst – alle möglichen Schutzstrategien entwickeln, um weitere Verletzungen des Selbstwertes zu vermeiden. Die einen geben sich nun extra Mühe und wollen beweisen, dass sie liebenswürdig sind – und geben sich dabei auf. Die anderen tun alles, damit ihnen niemand mehr so nahe kommen kann, dass er sie dann verletzen könnte. Unerreichbare Partner, maßlos überhöhte Ansprüche sind beispielsweise effektvolle Vermeidungsstrategien, derer sich die Betroffenen selten bewusst sind. Im Gegenteil scheint sich die Welt gegen sie verschworen zu haben, sie wünschen sich ja so sehr Nähe und Liebe – nur weiß das niemand zu würdigen, so scheint es ihnen.
In Wirklichkeit ziehen sie aus dieser Position der Schwäche nur Personen an, die ebenfalls einen verletzten Selbstwert haben und ihre Kraft aus den Bemühungen anderer ziehen. Die Folge ist jene unglückliche Paar-Dynamik, in der einer den anderen auf Distanz hält und bei jedem Rückzug den Partner animiert, noch mehr zu investieren. Irgendwann hält das Paar das nicht mehr aus, und die Beziehung zerbricht oder das Kennenlernen wird abgebrochen. Jeder fühlt sich bestätigt, dass die Partnersuche anstrengend und verletzend ist. Man stellt die Fähigkeit zur Verbindlichkeit in Frage – und der Kreislauf aus Schutzstrategien beginnt erneut. Allerdings machen die alles nur schlimmer, nicht besser. Sie festigen die Muster sogar.