Sexuelle Unlust ist in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme: Jeder Zweite ist Umfragen zufolge mit seinem Liebesleben unzufrieden. Die Sexualtherapeutin Beatrice Wagner akzeptiert diesen Grund nicht. Ein Buchauszug
Margot & Florian
Bei unserer nächsten Stunde bat ich beide, mir ihr Ideales Sexuelles Szenario (kurz ISS, geht auf den Heidelberger Paar- und Sexualtherapeuten Ulrich Clement zurück) zu beschreiben. Wie würde es aussehen, wenn Margit sowohl Hauptperson als auch Regisseurin ihres eigenen Erotikfilmes wäre? Und wie würde Florian seinen Film inszenieren?
Margit lachte verlegen: »Ich habe sehr viele Ideen. Manche würde ich gerne mal umsetzen, manche laufen einfach nur im Kopfkino ab, wie zum Beispiel diese Szene: Es ist Sommer, ich war in einem See baden und gehe nun zu Fuß durch den Wald nach Hause. Die Luft ist schwül und drückend. Einzelne dicke Regentropfen beginnen vom Himmel zu fallen. Ich werde nass, mein Kleid klebt mir am Körper. Von ferne grummelt ein Donner. Es wird dunkel und die Stimmung bedrohlich. Gleichzeitig fühlt sich alles intensiv und echt an. Ein Auto hält, der Fahrer bietet mir an mitzufahren. Er steigt aus, geht um sein Auto herum, um mir die Tür zu öffnen. Und es ist augenblicklich klar, dass wir Sex haben werden.«
Florian wirkte interessiert und schaute gespannt, wie es weiterging. Als er merkte, dass Margit mit ihrer Erzählung schon am Ende angelangt war, machte sich eine leichte Enttäuschung breit. »Draußen hatten wir ja immer mal wieder Sex, das ist ja nicht so spannend.« »Aber der Autofahrer bist ja nicht du«, warf Margit keck ein, »sondern ein fremder Mann. Ich habe da jetzt niemand Speziellen im Kopf, aber er muss gut aussehen.«
Ganz schön mutig. Nach ihrem ISS frage ich die Partner häufig nach dem Objekt ihrer Begierde, aber kaum jemand traut sich zu sagen, dass in der Phantasie nicht nur der eigene Partner oder die eigene Partnerin herumspukt, sondern auch der eine oder andere Unbekannte.
Florian war wider Erwarten nicht pikiert. »Ach so«, meinte er fast ungläubig, »das hätte ich nicht vermutet, da gibt es einen anderen in deiner Phantasie? Finde ich ja spannend.«»In meiner Vorstellung taucht schon mal jemand auf und macht Sachen mit mir, nach denen ich mich sehne. Manchmal machst es auch du«, fuhr Margit fort. Sie war kaum zu bremsen. »Oft stelle ich mir vor, ich wäre gefesselt und könnte mich nicht bewegen. Weil ich einen Knebel im Mund habe, kann ich nicht um Hilfe rufen. Ich liege auf dem Sofa, versuche mich freizubekommen, dabei verrutschen mir Bluse und Rock. Du kommst ins Zimmer, bist überrascht, mich zu sehen. Du siehst, wie ich mich drehe und winde. Dabei bekommst du eine Erektion. Anstatt mich zu befreien, ziehst du meinen Slip beiseite und dringst in mich ein. Ich kann nichts sagen, nur stöhnen. Du sagst auch kein Wort. Du befriedigst dich einfach an mir. Manchmal rückst mich in eine andere Position, wenn dir das mehr Genuss verspricht. Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt. Bin dir völlig ausgeliefert. Das macht mich irre an.« Florian hatte sich während der Erzählung nach vorne gebeugt. »Das hätte ich nie für möglich gehalten«, meinte er. »So kenne ich dich gar nicht. Ich habe bislang die beiden Sachen nicht zusammengebracht: die Ehefrau, die ich liebe, und der schmutzige Sex, den ich brauche.«
Ich mischte mich ein: »Jetzt bin ich gespannt, welche Vorstellungen Sie uns präsentieren. Erzählen Sie, es interessiert mich, ob wir eine Verbindung zwischen beiden Geschichten knüpfen können.«
»Die Vorstellungen von Margit liegen gar nicht so weit weg von dem, was ich mir wünsche. Ich würde mit ihr liebend gerne in einen Swingerclub gehen. Ich stelle mir ein ganz besonderes Etablissement vor. Kennen Sie den Film ›Eyes wide shut‹ von Stanley Kubrick? So etwas stelle ich mir vor. Alles ist geheimnisvoll. Margit ist edel gekleidet, sie trägt eine schwarze Augenmaske und geht wie eine Königin. Die Körperhaltung dazu hat sie als Tänzerin ja sowieso schon. Wir tanzen miteinander. Dabei fällt ihr Gewand auseinander, es ist immer wieder etwas zu sehen, mal der Po, mal die Brust. Ich verbinde ihr die Augen, führe sie in ein Chambre séparée, dort binde ich ihre Hände an einem Galgen fest. Dann nehme eine Peitsche – sie ist aus weichem Material und schmerzt nicht so sehr – und lasse sie auf ihren Po nieder- fahren. Der wird rot. Margit wird feucht, ich sehe es. Die anderen Männer sehen es auch. Sie werden geil. Jeder will sie. Aber ich bekomme sie.« Jetzt lächelte Margit, tatsächlich hoheitsvoll wie eine Königin. »Einiges davon könnte ich mir schon vorstellen. Aber auf gar keinen Fall, dass wir in der Öffentlichkeit Sex haben!«
»Lassen Sie uns doch einmal das zusammenstellen, was Sie verbindet, und nicht das, was Sie trennt«, schlug ich vor. »Sie, Florian, lieben beim Sex das leicht Devote an Frauen. Sie, Margit, lieben es, wenn Sie nicht wissen, was als Nächstes passiert. Könnten Sie sich denn vorstellen, in einen Club zu gehen, leicht bekleidet, aber nicht peinlich, und sich von Florian einfach führen lassen?«
Florian wehrte ab. »Das macht sie nie!« Margit lächelte und meinte: »Du fragst mich ja gar nicht.«
Und dann begann ein Zueinanderfinden, wie man es sich nicht hätte ausdenken können. Margit spürte, dass hier wirklich ihrer beider Chance lag. Aber sie wollte nicht in die devote Rolle der Frau fallen, mit der Florian eine Affäre hatte. Trotzdem gelang es ihr, über sich selbst hinauszuwachsen und sich in seine Wünsche hineinzudenken.
»Ich kann mir eine Sado-Maso-Party vorstellen, bei der wir nur schauen. Dann wüsste ich ja schon einmal, was mich erwartet?«, schlug sie vor. Er schaute sie verblüfft an. Alles, aber nicht das hätte er erwartet. »Viele Techniken, die dort zu sehen sind, werden dich vielleicht abstoßen, mich übrigens auch. Aber was mir richtig gut gefallen würde: wenn wir auf eine Fetisch-Party gingen. Du bist aufreizend angezogen, alle Männer werden scharf auf dich und ich kann mit dir angeben. Ich muss dich nicht peitschen, es reicht mir, wenn ich dich hinterher vögeln kann.« Wow, wie er plötzlich redete, gar nicht mehr zurückhaltend wie ein Mediziner. »Aber in aller Öffentlichkeit lasse ich mich nicht vögeln«, stellte Margit noch einmal klar. »Das ist okay, ich will uns auch nicht öffentlich bloßstellen. Aber ich bin stolz auf dich und es macht mich an, wenn andere Männer mich um dich beneiden.«»Das heißt, wir müssen High Heels und erotische Dessous einkaufen, ich kann da ja nicht im Nachthemd hin.« Sein Lächeln spiegelte sein Erstaunen. »Es muss was zu sehen sein, aber viel soll man auch einfach nur ahnen. Gehen wir zusammen in einen SM-Shop und lassen uns beraten. Das Anprobieren wird sicher spannend.«
Irgendwann traf eine nette Postkarte bei mir ein, mit herzlichen Dankesworten auf der Rückseite. Auf der Vorderseite: Eine brav aussehende Frau mit einer 50er-Jahre-Frisur, die ein Glas Sekt trinkt und dazu meint: »Jede Frau braucht zwei Männer. Einen zum Putzen und einen zum Kochen.« Da war mir klar, dass Margit erst angefangen hatte, ihre Phantasien zu entdecken. Über Unlust aufgrund von Langeweile würde sich ihr Mann sicher nicht mehr beklagen müssen.
Dr. Beatrice Wagner ist Paar- und Sexualtherapeutin, Lehrbeauftragte an der Universität München und Buchautorin. Wir haben mit ihr ein Interview geführt über ein vielfältiges Liebesleben.
Kein guter Sex ohne Unlust
– Aus dem Alltag einer Sexualtherapeutin
ISBN: 978-3-442-22101-1
€ 8,99 [D] | € 9,30 [A] | CHF 12,50
Verlag: Goldmann