Niemand ist perfekt. Sie auch nicht. Das wissen Sie am besten. Paarberaterin Stephanie Katerle fordert, die Masken fallen zu lassen und sich der Realität zu stellen. Ein Buchauszug
Viele Menschen umgehen in der Anfangsphase einer neuen Beziehung die normalsten Dinge. So vermeidet man es, in der Wohnung des neuen Partners zu übernachten, weil man im Bad die Geräusche der WC-Schüssel hören kann, weil das Licht im Schlafzimmer unvorteilhaft ist oder weil man sich dort morgens nicht gut aus dem Bett schleichen kann, um sich zurechtzumachen, bevor man dem anderen begegnet. Manche Menschen putzen sich heimlich die Zähne, bevor sie zum Guten-Morgen-Kuss wieder unter die Decke krabbeln, oder kämmen sich mitten in der Nacht die Haare. Es könnte ja sein, dass ein Erdbeben passiert, das Haus evakuiert werden muss und man dem Partner womöglich mit schief sitzendem Scheitel in die Notunterkunft folgen müsste.
Hinter der Fassade tobt das Leben
Dahinter steckt die Befürchtung, die kleinste menschliche Unvollkommenheit könnte die entstehende Beziehung auf der Stelle zunichtemachen. Da wir von uns meist annehmen, eine Ansammlung von Unvollkommenheiten zu sein, und uns wundern, dass diese offenbar für den Partner unsichtbar geblieben sind, verwenden wir enorm viel Energie auf das Verstecken der vermeintlichen Makel, Patzer und Ausrutscher. Wenn der Wunschpartner oder die Wunschpartnerin noch nichts Negatives über den vermeintlichen Schandfleck auf unserem Image geäußert hat, ist das für uns der sichere Beweis dafür, dass unsere Tarnung funktioniert. Dabei hat der andere längst bemerkt, dass wir schüttere Stellen am Hinterkopf oder ziemlich üppige Waden haben, er erwähnt es bloß nicht, weil es nicht wichtig erscheint. Das ermuntert viele dazu, noch mehr abzulenken, zu überspielen und zu vertuschen. Wie aber geht man damit um, wenn dann doch einmal eine Maske fällt?
Auch Prinzen, das ist eine Tatsache, müssen Pipi. Und Prinzessinnen ist es manchmal schlecht. Ritter riechen morgens aus dem Mund und Burgfräulein haben nach dem Aufstehen eine Turmfrisur. Es gibt drei Kategorien von peinlichen Patzern in frischen Beziehungen oder bei zwischenmenschlichen Begegnungen. Und wenn wir uns anschauen, wie viele davon überhaupt sichtbar oder gar vermeidbar sind, wird klar, dass wir keine andere Chance haben, als damit schlicht und einfach offensiv umzugehen.
Let’s get physical!
Kategorie eins: George Clooney hat vielleicht Hämorrhoiden und Heidi Klum Nagelpilz. (Möglicherweise. Ich würde es auf keinen Rechtsstreit ankommen lassen!) Das sind Äußerlichkeiten, die beide wahrscheinlich so lange wie möglich zu verstecken versuchten. Schnarchen, Zähneknirschen, Fußgeruch oder unkontrollierbare Achselnässe gehören ebenso zu dieser unappetitlichen Gruppe wie Hornhaut und hässliche Füße. Früher oder später kommen sie ans Licht, ob man es will oder nicht.
In der zweiten Kategorie gibt es eine ganze Reihe seltsamer Angewohnheiten und unbewusster Gesten, die Heidi und George ebenfalls begleiten. Möglicherweise fasst sich George gerne mal in die Nase (und merkt es nicht) oder Heidi knackt mit den Fingerknöcheln (und merkt es nicht). Vielleicht spricht der eine im Schlaf und die andere schmatzt. George sagt in jedem dritten Satz »ein Stück weit«, während Heidi vielleicht dieses verlegene Gackern von sich gibt, wenn sie nicht weiß, was sie sagen soll. Es könnte sein, dass einen Partner in spe ein Gackern oder ein Popeln mehr stört als alle Hornhaut der Welt. Oft sind es diese Angewohnheiten, auf die einen der Partner, gerne bei unfairen Auseinandersetzungen, hinweist. Mit der Zeit sammelt man Erfahrungswerte, wie manche Angewohnheiten bei anderen ankommen, behält sie bei oder gewöhnt sie sich ab. Und wenn sie nicht behebbar sind, lernt man, darüber zu sprechen.
Die dritte Kategorie besteht aus Dingen, die für uns und alle bisherigen Partner unsichtbar gewesen sind, aber eben für diese eine bestimmte Person bedeutsam werden. Dass Heidi schon abends den Tisch fürs Frühstück deckt, hat sie vielleicht von Kindheit an gelernt und denkt gar nicht mehr darüber nach. Ihr erster Exfreund fand es süß, ihr zweiter normal und der dritte praktisch. Dieser Partner hier aber findet das unerträglich spießig. George dagegen ruft vormittags gern mal im Büro an, um zu fragen, wie es geht. Seine Exfreundinnen hielten davon eine Menge oder sprachen nicht darüber. Diese Frau aber fühlt sich bevormundet und bekommt Fluchtreflexe. Auch hier hilft nur eines: Reden!
Verstecken gilt nicht
Fazit: Die sichtbaren Unvollkommenheiten sind sozusagen die Spitze des Eisbergs. Hier, so meinen wir, können wir aktive Versteckhilfe leisten. Also lassen wir im Bett die Socken an, benutzen ätzendes Deo oder pupsen nur noch, wenn das Radio auf voller Lautstärke dröhnt. Dabei sind wir auf den Ebenen zwei und drei schon die ganze Zeit entlarvt. Wer wir sind, können wir nicht verstecken. Wir senden eine Unzahl von Informationen in die Welt, ohne auch nur darüber nachzudenken. Unsere Mimik spielt sich in Teilen unseres Bewusstseins ab, die wir überhaupt nicht kontrollieren können. Unsere Gestik verrät uns ohnehin. Also warum sprechen wir nicht darüber? Warum tabuisieren wir lächerliche Kleinigkeiten in der Hoffnung, besonders ruhiges Toilettenverhalten sei der Tupfen auf dem i unserer Attraktivität? Diese Frau, dieser Mann da gegenüber sieht so viel und weiß so viel über uns, dass wir uns einen Bärendienst erweisen, wenn wir in die Vermeidung von Peinlichkeit so viel Energie verschwenden. Um zu Martina Hill zurückzukommen: Was sie als Reaktion auf den kleinen Wind im Bad tut, ist für den im Bett auf sie wartenden Mann viel enthüllender, als es der kleine, harmlose Pups je sein könnte. »Verkrampft«, »uncool«, »hysterisch« sind die Adjektive, die ihm wahrscheinlich einfallen. Die zweite Runde in dieser Nacht wird vermutlich ziemlich unlustig werden.
Auch Prinzen müssen Pipi
192 Seiten, kartoniert
EUR 14,99 / EUR [A] 15,40 / sFr 21,90
ISBN 978-3-451-61312-8
erschienen im Kreuz-Verlag