Wie ich als Mann lernte, Gefühle zuzulassen, statt sie zu unterdrücken

Gastautor Leon Reinhardts über das schwierige Verhältnis vieler Männer zu ihren Gefühlen und wie es trotzdem gelingen kann, die eigenen Gefühle zuzulassen und auszudrücken

Lange Zeit hatte ich große Angst davor, Gefühle zu zeigen. Jetzt im Rückblick kommt mir das völlig absurd vor: Ein einzelnes Gefühl, nämlich die Angst, verhinderte, dass andere Gefühle nach außen dringen konnten.

Wenn ich ganz ehrlich zu mir selber bin, habe ich wohl schon seit meiner Kindheit Gefühlsregungen lieber unterdrückt, als sie an die Oberfläche dringen zu lassen, sodass sie für meine Umwelt sichtbar werden. Typisch männlich, könnte man jetzt meinen – Gefühle zulassen und zeigen: Das macht schwach. Das ist nur in Extremsituationen okay. Das ist einfach unmännlich. Warum auch immer.

Gefühle zulassen: Männern fehlen gute Vorbilder

Ich weiß nicht, warum viele Männer auf Kriegsfuß mit ihren Gefühlen stehen. Ein Grund ist vielleicht, dass uns wirklich gute Vorbilder fehlen. Männer, die gelernt haben, zu ihren eigenen Gefühlen zu stehen, Gefühle zuzulassen und auszudrücken. Und zwar auf eine natürliche, authentische Weise, nicht als „Clown“ oder „Schauspieler“. Männer, die zugleich aber auch nicht ins andere Extrem verfallen, das im Englischen als High-Expressed-Emotions – „(sehr) starker Gefühlsausdruck“ – bezeichnet wird. Manchmal begegnet man ja auf der Straße Vätern und Müttern, deren gesamte Kommunikation mit ihren Kindern aus Kritik, Vorwürfen, Geschrei und Gebrüll besteht. Das ist grob damit gemeint.

Viele Männer haben Angst vor Kontrollverlust, wenn sie Gefühle zulassen würden

Vielleicht haben viele Männer aufgrund mangelnder Vorbilder oder auch negativer eigener Erfahrungen Angst davor, dass ein Gefühlsausdruck zu einem Gefühlsexzess führen würde. Dass die Gefühle, lässt man(n) sie erst einmal zu, zu sprudeln beginnen, gar nicht mehr aufhören und immer stärker werden, bis sie nicht mehr beherrschbar sind. Ich glaube, viele Männer haben große Angst vor Kontrollverlust. In Gefühlen sehen sie „Gefährder“ der eigenen inneren Sicherheit. Gefühle nicht zuzulassen bedeutet dann, ein Gleichgewicht zu wahren, die Kontrolle zu behalten, in vertrauten Fahrwassern zu bleiben.


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