Viele Paare trennen sich schon beim ersten kleinen Konflikt. Andere Paare verharren in einer schmerzhaften und aussichtslosen Situation. Wie viel Leid gehört zur Liebe? Paarberater Eric Hegmann im Gespräch mit Birgit Ehrenberg, die die Liebe philosophisch betrachtet und dafür plädiert: Mit Vernunft ans Gefühl!
Eric Hegmann: Liebe Frau Ehrenberg, Sie als Philosophin haben gewiss einen anderen Blick auf die Liebe als ich, der als Paarberater nun vor allem mit unglücklichen Paaren arbeitet. Was ist Ihr Konzept von Liebe?
Birgit Ehrenberg: Liebe ist das größte Gefühl. Vor allem in der ersten Phase der Liebe, während der Verliebtheit, entfaltet dieses Gefühl eine unglaubliche Wucht, die alle anderen menschlichen Emotionen übertrifft. Im Moment der Erwiderung und Erfüllung der Liebe durchflutet einen das pure Glück. Man ist im sprichwörtlichen siebten Himmel – und da will man natürlich bleiben. Der Absturz ist vorprogrammiert, der Grund liegt im Wesen der Liebe selbst.
Um im siebten Himmel langfristig zu bleiben, muss ein Paar eine Menge arbeiten, das erlebe ich täglich. Und ich weiß, die Arbeit lohnt sich, auch wenn der Weg mal sehr leidvoll sein mag. Woher kommt es, dass Leid und Liebe so nah beieinander sind?
Um das zu verstehen, hilft es, sich auf die historischen Spuren der Liebe zu begeben. In Platons „Gastmahl“ aus dem Jahr 416 vor Christus – jenem Dialog, der wohl immer das bedeutendste philosophische Werk über die Liebe bleiben wird, – legt der Komödiendichter Aristophanes seine Sicht der Liebe dar. Ursprünglich habe es neben Frauen und Männern noch ein drittes Geschlecht gegeben: Eine Mischung aus Mann und Frau. Sogenannte „Kugelmenschen“, sie hatten vier Arme und vier Beine, zwei Köpfe und zwei Gesichter und – Obacht – eine gemeinsame Seele, eine beneidenswert glückliche Seele. Das Glück stieg den Kugelmenschen zu Kopf, und der strenge Zeus beschloss, ihnen eine Lektion in Bescheidenheit zu erteilen. Er gab seinem Sohn Hephaistos den Befehl, die dauerfröhlichen Kugeln in zwei Teile zu splitten, die seither traurig durchs Leben stolpern und ihre andere Hälfte suchen. Aristophanes sagt: Genau das ist die Liebe, dass man sich vollständig fühlt. Jeder Mensch, der geliebt hat, kann das unterschreiben.
Als Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies des Eins-Seins, so erklärt auch Sigmund Freud die Liebe. Für den Erfinder der Psychoanalyse ist Liebe die Suche nach dem Zustand, den man im Leib der Mutter als völlige Geborgenheit erfahren hat. Wir suchen also nach der Liebe, um mit uns identisch zu sein, um den Unterschied zum anderen verschwinden zu lassen. Objekt und Subjekt verschmelzen, das ist ein absoluter Flow, wie der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi den mentalen Zustand seliger Vertiefung versteht. Wer das einmal erlebt hat, der will mehr davon.
Platons Kugelmenschen sind ein schönes Bild für die Sehnsucht, ganz angenommen zu werden. Es birgt aber auch die Gefahr, sich in einer unerfüllbaren Sehnsucht zu verlieren. Sehnsucht und Liebe sind ja doch unterschiedliche Dinge. Liebe kann nur wachsen in Gegenseitigkeit. Sehnsucht kann ich auch alleine haben.
Die Sehnsucht und die Liebe sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn ein Mensch die Liebe gefunden hat, hört die Sehnsucht ja nicht auf, im Gegenteil. In einer Fernbeziehung zum Beispiel muss man vor allem mit der Sehnsucht fertig werden. Ich erlebe leider immer häufiger, dass sich immer weniger gesehnt wird. Früher nannte man das „sich verzehren“, dieses brennende Verlangen, den anderen zu sehen. An der Formulierung „sich verzehren“ merkt man, wie existenziell das Du für den Liebenden ist.
Das Aussterben der Sehnsucht hängt mit der virtuellen Kommunikation zusammen. Wer ständig textet, der hat den Eindruck, der geliebte Mensch sei präsent. Dabei ist es nur sein schwächlicher virtueller Abdruck. Wer wissen will, was wirkliche Sehnsucht ist, der kann sich diese bei Kindern abgucken. Ich bin einmal während einer Zugreise einem sechs Jahre alten Jungen mit seiner Mutter begegnet. Wir verstanden uns, haben uns Geschichten erzählt und viel gelacht, der Junge mochte mich. Als wir uns voneinander verabschiedeten sagte er: „Du, ich möchte dich vier Mal sehen!“ Mit diesen einfachen unverstellten Worten wollte er sagen, dass er mich oft sehen will, er war gern mit mir zusammen und wollte das wiederholen.
So ist das, wenn man jemanden mag, es entsteht unmittelbar Sehnsucht, die ploppt direkt aus dem Herz auf und geht erst einmal nicht wieder weg. Wir sollten die Sehnsucht kultivieren, anstatt sie uns abzugewöhnen. Es ist allerdings verlockend, die Sehnsucht auszuradieren, sie macht einen nämlich verletzlich, aber ohne Sehnsucht gibt es keine Liebe. Es sind – wie gesagt – die zwei Seiten einer Medaille, die das Wegpfand unserer Reise zu uns selbst ist.