Was fühlt man, wenn man nichts fühlt

In “Minusgefühle” beschreibt Autorin Jana Seelig ihre Niederlagen, ihre Chancen, ihre Traurigkeit und ihren ständigen Kampf gegen die Krankheit: Depressionen. Und über die Liebe. Ein Buchauszug

Es ist zwei Uhr nachts und ich stehe auf der Warschauer Brücke, den Blick in Richtung Fernsehturm gewandt. Die Straßen sind leer und doch hell erleuchtet und ich schlinge meinen Schal noch etwas enger um Hals und Mund, weil es so bitterkalt geworden ist – komisch, war es doch vor ein paar Tagen fast schon wieder Frühling.

Ich höre seine Schritte schon von weitem durch das vorsichtige nächtliche Rauschen der Großstadt hindurch. Sie klingen zaghaft, bedächtig. An meiner rechten Seite bleibt er stehen, zieht noch einmal an seiner Zigarette und bläst den Rauch durch beide Nasenlöcher aus, während er den glühenden Stummel von der Brücke fallen lässt. Eine Weile stehen wir einfach so da und sagen nichts, sehen einfach in die Ferne und genießen den Moment. Dann legt er seine linke Hand auf meine rechte und ich drehe mich langsam zu ihm um, sehe ihm das erste Mal seit langer Zeit in seine schönen braunen Augen mit den leichten grünen Sprenklern, und auch wenn sie im Licht der Laternen fast schwarz wirken, verliere ich mich gleich darin.

Noch immer haben wir kein Wort gesagt und es ist auch überhaupt nicht nötig. Wir sehen uns einfach ganz lange an, das erste Mal seit einem Jahr, und dann führt er seine Hände vorsichtig an mein Gesicht, streift den Schal ein Stück nach unten und …

„Warte!“, sage ich und lege meine Hände auf seine. Nicht, um sie wegzuschieben, sondern einfach, um sie festzuhalten und die Wärme seiner Finger noch etwas besser zu spüren. Es ist der Moment vor unserem ersten Kuss, dem ersten Kuss seit einem Jahr, und ich will ihn so lange es nur geht genießen. Nicht unbedingt zwangsläufig hinauszögern, immerhin warte ich seit fast zwölf Monaten auf diesen Kuss, doch ich will all das, was mich grad umgibt, die Geräusche, den Wind und die Wärme seines Körpers, in mir aufnehmen, bevor dieser Moment in unserem Kuss den Höhepunkt erreicht.

Es ist nicht unser erster Kuss, doch der erste Kuss seit sehr, sehr langer Zeit und der kleine Moment davor, in dem die Knie so richtig weich werden und das Herz bis zum Hals schlägt, ist vielleicht sogar noch besser als der Kuss. Man ist gerade dabei, ineinander zu versinken, doch noch bist du nicht ganz da und du spürst so ein Knistern, eine kleine Aufregung und vielleicht sogar die Frage, wie der Kuss wohl werden wird. Du genießt es, kostest den Moment voll aus, bis er tatsächlich in dem erhofft-ersehnten Kuss gipfelt, auf den du dich die ganze Zeit gefreut hast.

Ich erinnere mich noch genau an unseren ersten Kuss, damals in meiner Küche. Wir standen voreinander und kämpften um die letzte Flasche Bier und irgendwann hatten wir beide eine Hand am Flaschenhals, ich die rechte, er die linke und dann sahen wir uns einen Moment lang nur an, bis ich mich zu ihm hinüber beugte, den Kopf ein wenig reckte und ihn küsste. Es war ein unbeholfener und schüchterner Kuss, ganz kurz nur, weil ich viel zu nervös und aufgeregt und vielleicht auch ein bisschen zu betrunken war, um ihn richtig lang zu küssen. Doch der Moment ging mir nie wieder aus dem Kopf und immer, wenn ich eine Bierflasche der Marke sehe (es war ein Becks, das weiß ich noch ganz genau), fühl ich den Augenblick noch mal – so, als würde er gerade passieren. Er war damals ein bisschen irritiert und ich nutzte die Gelegenheit, um ihn die Flasche zu entwenden und damit in mein Zimmer zu verschwinden. Er lief sofort hinter mir her und ich weiß bis heute nicht genau, ob er nur sein Bier zurückhaben, oder mich noch einmal küssen wollte. Den Rest der Nacht haben wir geknutscht und das Bier, na ja, das stieß ich in einem besonders ungeschickten Moment von dem kleinen Nachttisch an der Seite meines Bettes, doch das war egal, denn unsere Küsse schmeckten besser und der Rausch kam mit ihnen von allein.

So, wie ich diesen Kuss nicht vergessen habe und auch nie vergessen werde, will ich auch den Kuss, der kurz bevor steht, und diesen ganz kurzen besonderen Moment davor für immer in Erinnerung behalten. Ich will mich an die Farben erinnern können, die ich währenddessen sah und an die Düfte, die ich roch und an all das, was uns in dem Moment umgab. Vielleicht, weil es mich spüren lässt, dass das hier wirklich alles echt ist, ganz real und nicht nur Hirngespinste meiner Fantasie – ich hab nämlich sehr oft von diesem Kuss geträumt, und in meinen Träumen roch er immer leicht nach Sommer und schmeckte wie Gin Tonic mit Zitrone.

Es ist jetzt kurz nach zwei und wir stehen immer noch auf der Warschauer Brücke, den Blick zum jeweils anderen gewandt. Alexander beugt er sich ganz langsam zu mir rüber und ich sehe noch, wie unser Atem die kalte Luft zwischen uns weiß färbt – und dann küsst er mich, und es ist ein Kuss, den ich nie vergessen werde, weil er von vorne bis hinten perfekt war und ich wirklich was gefühlt hab.

CoverJana Seelig:
Minusgefühle

ISBN: 978-3-492-06021-9
14,99 €
erhältlich im PIPER Verlag.

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