Warum nicht den besten Freund heiraten?

Wir müssen nicht in die Geschichte blicken, um zu beobachten, dass zum Beispiel arrangierte Ehen, in denen die Leidenschaft keine Rolle spielt – zunächst jedenfalls nicht – durchaus glücklich machen. In Indien sind arrangierte Ehen an der Tagesordnung. „Erst kommt die Hochzeit, dann die Liebe“, nach diesem Motto verheiraten auch heute noch im demokratischen Milliardenstaat Indien zwischen 85 und 90 Prozent der Familien ihre erwachsenen Kinder. Der passende Partner wird durch Anzeigen in Zeitungen und Internet oder durch ein Heer von professionellen Vermittlern gefunden. Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar, Autor von zahlreichen Büchern über Liebe und Sexualität, erklärt: „Jahrhundertelang war nicht das Paar der Kern der Familie, sondern die Großfamilie.“ Auch heute sehen die meisten Inder die Ehe als Verbindung zwischen zwei Familien an. Interessant ist die Diskrepanz zur Darstellung in den Medien. In den Filmen aus „Bollywood“ dagegen, der größten Traumfabrik der Welt, dreht sich alles um die große Leidenschaft zwischen Mann und Frau, die erst nach tausend Hindernissen am Filmende in Hochzeit oder Tod gipfelt. Das sehen Millionen Paare, die sich im wahren Leben erst nach der Heirat näher kennenlernen konnten – nach westlicher Vorstellung müssten sie alle kreuzunglücklich sein. Aber, so behauptet Sudhir Kakar: „Oft verlieben sich die Partner nach der Heirat wirklich ineinander.“

Es gab im vergangenen Jahr eine Studie, die herausgefunden haben wollte, es genüge, wenn sich zwei Menschen sympathisch finden, dass sie sich ineinander verlieben können. Sieht man sich an, welche Faktoren für eine Langzeitbeziehung ausschlaggebend sind, dann kommt man schnell auf den amerikanischen Professor John Gottman, der letztlich alle seine Tipps zur Partnersuche in einem Satz zusammengefasst hat: „Heiraten Sie Ihren besten Freund!“ Was ich spannend finde: Sage ich das in der Beratung Singles, sehen mich diese entsetzt an und fragen, wo bei diesem Ansatz denn die Romantik bleibe. Aber wenn ich das glücklichen Paaren sage, dann nicken diese und bestätigen sich gegenseitig, wie gut sie miteinander befreundet wären.

Und damit möchte ich noch einmal zurück nach Indien: Scheidungen auf dem indischen Subkontinent sind – natürlich auch aus kulturellen und religiösen Gründen – deutlich seltener als bei uns. Ein weiteres Zitat von Kakar, das den Unterschied zwischen Indien und der westlichen Welt beschreibt: „Mit der Ehe kann man Zufriedenheit erreichen, aber in Europa soll es Ekstase sein.“ Weltweit betonen Psychologen inzwischen, dass Verliebtheit und Leidenschaft nicht tragfähig genug für eine lang dauernde harmonische Ehe sind. Gemeinsamkeiten und geteilte Werte sowie Respekt vor dem anderen – also „Vernunftgründe“ – sind wichtiger als das kurzzeitige Aufwallen der Hormone.


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