Unerfüllte Wünsche? Der Zug ist längst nicht abgefahren

Als Kinder haben wir große Träume, viele Wünsche und Hoffnungen. Was bleibt von ihnen später? Jule Blogt über sich schließende Türen und vorbeiziehende Träume

„Mama, wenn ich groß bin, werde ich Tierforscherin“, legte ich mit zarten sechs Jahren fest. Ich hatte gerade einen Hasen bekommen und war fest der Meinung, dass ich mit dieser Erfahrung die perfekte Expertin abgeben würde. „Ja, mein Kind, du kannst alles werden, wenn du groß bist“, bestätigte mich meine Mama in meinem Vorhaben. Vor mir standen so viele Türen offen, dass ich unter der Fülle der Möglichkeiten manchmal ganz wuschig wurde. Nach und nach begann ich mir Ziele zu stecken: ein eigenes Buch schreiben, ein Studium erfolgreich abschließen, eine Familie gründen etc. pp. Still und leise, ohne dass ich es zuerst bemerkte, schlossen sich mit der Zeit die ersten Durchgänge. Kein 1er Abitur? Also fällt die Medizin-Studiums-Tür schon einmal zu. Groß gestört hat mich das nicht, schließlich gab es noch so viele Wege, die ich hätte gehen können, um meine definierten Ziele zu erreichen. Kein Talent für Mathematik und Physik? Knall, rumms, klirr, wieder ein paar Türen zu. Man kann nicht alles können, dachte ich, und blieb ruhig. Während ich mich noch in den schier unendlichen Möglichkeiten suhlte, geschah etwas Beunruhigendes. Mit jedem Lebensjahr, welches an mir vorbei zog, entfernten sich meine Ziele ebenso schnell.

Es gab so viele Ziele, von denen ich mich verabschieden musste

Manchmal kam ich mir vor wie eine Reisende, die am Bahnhof auf ihren Zug wartet. Während ich da nun so stand, mit meinem Koffer in der Hand, rauschte ein Zug nach dem anderen am Gleis vorbei. Bei genauerem Hinsehen, erblickte ich in den Abteilen kleine Kreaturen, die winkend in meine Richtung jubelten. “Lustige kleine Kerlchen”, dachte ich, bis ich feststellen musste, dass es sich bei den Gestalten um meine in der Vergangenheit gesetzten Ziele handelte. Der Traum von meiner ersten Buchveröffentlichung mit 22 Jahren, hüpfte im Abteil hoch und runter. Mit quietschender Stimme rief er mir entgegen: “Tschüss, ich bin dann mal weg.” Ich versuchte noch, nach ihm zu greifen und ihn vielleicht durch das Fenster zerren zu können, vergebens. Traurig winkend verabschiedete ich mich von dem Traum, der mich so viele Jahre lang begleitete. Es sollte nicht der Letzte gewesen sein. Mit jedem Jahr, das ich am Bahnsteig verbrachte, rauschten die Züge schneller an mir vorbei. Manchmal bemerkte ich nur den Windzug, der durch ihre Geschwindigkeit um meine Nase wehte. Ich hoffte, dass irgendwann einmal ein Zug anhalten würde, um mich einsteigen zu lassen. Vielleicht der Familienzug? Den hatte ich bewusst im Fahrplan ziemlich weit nach hinten geschoben, um genug Zeit für die Reisevorbereitung zu haben. Doch als ich 25 wurde, rauschte auch dieses vorher gesteckte Ziel winkend an mir vorbei. Ach, da kommt bestimmt noch einmal ein außerplanmäßiger Halt, bei dem ich zusteigen könnte, hoffte ich.

Immer einen Fuß vor den anderen setzen

Jahrelang am Bahnsteig zu stehen, setzte mir zu. Die Hände froren und die Füße taten weh. Mit jeder Zugdurchfahrt schmolz meine Chance dahin, ein Leben zu führen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es waren zu viele Türen, die sich im Laufe der letzten Jahre vor mir schlossen. “Ja, mein Kind, du kannst alles werden, wenn du groß bist”, verlor langsam an Bedeutung. Eine Tür jedoch, strahlte mir weiterhin entgegen.


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