Über die (Nicht-)Alltäglichkeit der Liebe

Kann Liebe „alltäglich“ sein? Gast-Autor Leon Reinhardts versucht dieser Frage auf den Grund zu gehen

Viele von uns haben da diese Fantasie vom Rentnerpärchen auf der Parkbank, das Händchen hält, schweigend in den Sonnenuntergang schaut und dabei auf eine reife und völlig uneitle Art und Weise glücklich ist. Ich weiß gar nicht, woher dieses populäre Bild stammt. Vielleicht aus einer der oben erwähnten Erzählungen. Wohl niemand würde bestreiten, dass diese Parkbank-Szene ebenso liebesgetränkt wie alltäglich ist.

Aber das ist doch nur ein Moment, ein kleiner Ausschnitt aus der Beziehung der beiden Liebenden. Manifestiert sich Liebe nur in solchen einzelnen magischen Momenten?

Liebe ist nicht mit Glück gleichzusetzen

Ich habe eine eigenwillige Vorstellung davon, was Liebe ist. Vielleicht etwas pathetisch, vielleicht durch Hollywood geprägt, vielleicht fernab der Wirklichkeit. Aber ich glaube wirklich noch daran, dass Liebe den Alltag übersteigt. Dass Liebe eben nie alltäglich ist und jene erwähnten einzelnen Glücksmomente des Beziehungsalltags mit der Liebe zusammenhängen mögen, aber eben nicht die Liebe selbst sind (sonst wären Glück und Liebe ja synonym – aber das sind sie nicht).

Zugegeben, das sind komplizierte Gedanken. Ich versuche zu erklären, was ich damit meine.

Für mich gibt es verschiedene Grade der Liebe. Liebe kann stärker oder schwächer sein. Sie kann schwanken, kann sich entwickeln, in alle Richtungen. Sie ist nicht statisch, ein für alle Mal festgelegt, und sie ist auch nicht ein Entweder-Liebe-oder-keine-Liebe. Sie ist ein Gradmesser der emotionalen Verbundenheit.

Liebe verträgt Wellengang

Dabei ist sie immer ein Ganzes, so wie auch eine Beziehung mehr ist als ein einzelner Beziehungsmoment. Es kommt nicht auf einzelne euphorische Glücksmomente an (sonst würden wir uns in einer Beziehungskrise ja immer sofort trennen), auch nicht auf eine Bilanz (mehr Positives als Negatives), sondern auf das Ganze einer Beziehung. So auch bei der Liebe. Sie verträgt Wellengang, wenn sie echte Liebe ist. Sie braucht nicht ständigen Überschwang. Und teilweise ist das Ganze der Liebe überhaupt erst das, was uns glücklich macht. Glücklich im Sinne von zufrieden – ein überdauernder Zustand, der nur wenig an den konkreten Alltag und konkrete Erlebnisse geknüpft ist.

Vielleicht kennen Sie dieses Gefühl: Sie sitzen im Büro auf der Arbeit und plötzlich erfasst Sie ein warmer Schauer. Sie denken an Ihren Liebsten oder Ihre Liebste, spüren jetzt in der Gegenwart die gemeinsame Vergangenheit und freuen sich auf all die Tage, die da noch kommen werden. Dann hat sich das Ganze der Liebe in ein Gefühl gekleidet.

Ich verstehe jeden, der nach einer solchen Erfahrung behauptet, die Liebe sei ein Wunder. Übersteige unseren Verstand – und den Alltag. Die Liebe selbst ist nie alltäglich.

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