Ihr Mann stirbt, plötzlich und unerwartet, stürzt an einem Ostersonntag vom Fahrrad und die Welt endet. Petra Mikutta erzählt die Geschichte ihrer Trauer. Ein Buchauszug
Wir reisen zu dritt, meine Tochter, ich und meine Trauer. Sie ist es, die unsere Route festgelegt hat. Sie und ich haben eine verhängnisvolle Affäre. Man kann nicht sagen, dass sie mir guttut, im Gegenteil. Versuche, glücklich zu werden, sabotiert sie regelmäßig. Aber mir fehlt die Kraft, die Liaison zu beenden, noch. Nein, ich will nicht. Das ist die Standardantwort meiner Trauer auf so gut wie alle meine Vorschläge, sei es, komm, wir gehen spazieren, ins Kino, Blumen kaufen, wir nehmen wieder Cellounterricht, wir helfen in der Suppenküche aus, wir kochen endlich einmal wieder und laden Freunde ein, oder:
Komm, wir fahren mit meiner Tochter drei Wochen lang in Urlaub.
Meine Gefährtin, die Trauer, ist es gewohnt, ihren Willen zu bekommen, und reagiert eingeschnappt auf meinen Widerspruch. Sie macht sich neben mir im Bett noch breiter und drängt mich an den äußersten Rand. Mein Bein baumelt in der Luft, die Zudecke liegt zur Hälfte auf dem Boden, der Oberkörper, der am Kopfteil lehnt, gerät in Schieflage. Es gefällt ihr, wenn ich das Gleichgewicht verliere, bei jeder Gelegenheit sorgt sie dafür.
Sie hat sich die Decke über den Kopf gezogen, weil sie den Regenhimmel vor dem Fenster nicht ertragen kann. An anderen Tagen sind es die Sonne und das Blau, vor denen sie sich verkriecht.
Ich lasse mich von ihren Launen quälen und halte doch an ihr fest. Bleib bei mir, sonst habe ich gar nichts und niemanden mehr, jammere ich, wenn sie sich, was selten genug vorkommt, einmal außer Sichtweite begibt.
Du darfst auch bestimmen, wohin es geht, du allein, meine Tochter und ich, wir werden uns deinen Wünschen fügen. Ich bitte und flehe.
Bitte, verreise mit uns.
Sie setzt sich mit einem Ruck auf und sieht mich an. Niemand kann boshafter lächeln.
Du könntest mich ja hierlassen, zischt sie. Das wäre doch der perfekte Auftakt zur Trennung, die du planst. Ich bin nicht blöd. Ich spüre, dass du mich loswerden willst.
Neinneinnein, ich kann nicht ohne dich sein.
Sag den letzten Satz noch mal. Ich kann nicht ohne dich sein. Willst du einen Kuss?, sie leckt ihre Lippen.
Ich nicke und schließe die Augen.
Ihre Küsse verkaufen mir Qual als Linderung, Kampf als Ruhe, Einsamkeit als Liebe. Ich giere nach ihnen.
Wie selbstherrlich sie neben mir thront.
Dann hol mir einen Stift und einen Zettel, sagt sie gelangweilt. Damit ich dir meine Bedingungen diktieren kann.
Kein kalter Wind, kein Regen, ich will in den Süden, wo die Sonne scheint, hast du das notiert?
Ja, gut, was noch?
Die Berge wären doch was, oder Strand und Meer, oder wie wäre es mit einer Zeitreise, auf den Pfaden der Liebe zu deinem verstorbenen Mann?
Was hast du vor?, frage ich und lege den Stift beiseite.
Was ich eigentlich immer vorhabe. Ich vergrößere dein Unglück.
Ich hasse dich.
Nein, das tust du nicht. Sie lässt dem Satz eine rhetorische Pause folgen. Ich lausche hinein und höre, was ich hoffe und fürchte.
Ich hasse dich nicht, du hast recht, sage ich.
Ich weiß. Nur ich, ich allein, kann dir über den Tod deines Mannes hinweghelfen. Ohne harte Trauerarbeit, das ist psychologisches Basiswissen, kein Seelenheil.
Überschätze dich nicht.
O, eine Drohung vom Trauerklößchen. Was soll denn das werden, ein Befreiungsschlag? Da krieg ich aber Bammel.
Als sie den Kopf zurückwirft und schallend lacht, nehme ich mein Kissen, werfe mich auf sie und drücke es ihr ins Gesicht. Wenn sich ein wütender Pitbull auf einen stürzt und man einen klaren Kopf behält, kann man ihn in einem Kampf auf Leben und Tod relativ problemlos ruhigstellen. Man legt ihm den Arm um den Hals, drückt mit aller Kraft zu und lockert den Griff um keinen Preis. Vielleicht trägt man ein paar Bisswunden davon, aber letztlich sind Menschen stärker. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was einer meiner Freunde, der Ringer ist, behauptet hat.
Meine Gefährtin strampelt und schlägt um sich und bäumt sich auf, als ginge es um ihr Leben. Wenn es darauf ankommt, bin ich stärker als sie. Das wissen wir beide, und wir ignorieren es im Einvernehmen. Beziehungen sind komplexe Geflechte, schwer zu entwirren, vor allem, wenn man darin gefangen ist.
Hör mir zu, keuche ich, du musst netter zu mir sein. Du musst mich respektieren, verstehst du. Wir werden einander nie verlassen können, das ist unser Los. Aber so geht es nicht weiter. Ich kann mit deinen Grausamkeiten nicht leben, und wenn ich sterbe, stirbst du auch.
Sie klopft mit der Hand auf die Matratze, das Zeichen, dass sie aufgibt.
Ich lasse sie frei, natürlich. Sie setzt sich auf, neben mich, in angenehmem Abstand. Wir schnaufen beide. Ich weine.
Nun heul nicht schon wieder, sagt sie. Das geht mir auf die Nerven.
Ich schnäuze in eines der zerknüllten Papiertaschentücher, die ich um mich herum im Bett verteilt habe, wie als Kind meine Kuscheltiere.
Und nun?, frage ich und schiele in ihre Richtung. Sie ist ein finsteres, massives Ding, aber im Grunde nicht böse, davon bin ich überzeugt. Sie wäre ein hervorragender Bodyguard, wenn sie auf meiner Seite stünde.
Sie seufzt und schielt in meine Richtung, bis sich unsere schiefen Blicke verhaken.
Vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, sagt sie. Aber nicht, wenn du weiter so eine heulsusige Memme bist.
Es ist das erste Mal, dass wir miteinander lachen.
Schreib, sagt sie, und klingt plötzlich wie mein Steuerberater.
Kein Regen, keine Kälte, also Südeuropa, aber das hast du ja schon notiert.
Keine Berge, ich trau dir erstens nicht, wenn du an einem Abgrund stehst, noch nicht. Und zweitens habe ich keine Lust, mir den ganzen Tag dein Geschwafel über die Ewigkeit und den Sinn des Lebens anzuhören. Berge sind die Stein gewordenen Existenzfragen. Jemand wie du beginnt nach Antworten zu suchen, sobald auch nur ein einziger Gipfel am Horizont zu erahnen ist. Und keine Wälder, ebenfalls noch nicht, und es ist klar, warum nicht. Übrigens finde ich, du könntest dir diese Leben-und-Tod-alles-ist-eins-also-warum-leben-Gedanken allmählich aus dem Kopf schlagen.
Aber meine Tante, die …
Schweig und schreib weiter. Keine Zeitreise zurück an Orte, die du und dein Mann besucht haben. Du brauchst neue Erinnerungen, die nur dir und deiner Tochter gehören.
Und dir, sage ich und wische mir so unauffällig wie möglich die Augenwinkel. Ich bin gerührt von ihrer konstruktiven Hilfe. Und wie klar sie denken kann. Wie gern würde ich ihr das sagen, aber ich spüre ihre Ungeduld. Ich will nicht riskieren, dass die gute Stimmung umschlägt, weil ich gefühlig werde, was sie nicht leiden kann.
Sie kommentiert mein knappes Und dir mit einem kleinen Knurren und fährt mit ihrer Buchhalterstimme fort.
Kein Meer. Du würdest dich von früh bis spät in seinen Geschichten verlieren und Schwebeteilchen unter eine imaginäre Lupe nehmen, statt dich für das Leben außerhalb deines Kopfs zu interessieren. Und wozu sonst verreist man. Jetzt lies, was du notiert hast, triff eine Wahl, und bitte, gern geschehen.
Lesen Sie hier unser Interview mit Petra Mikutta: “Mein Herz ist größer geworden”
Sie werden lachen. Mein Mann ist tot
Ein Überlebensbuch
ISBN: 978-3-8135-0654-9
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 26,90* (* empf. VK-Preis)
Verlag: Knaus