Als die Bindungstheorie entwickelt wurde, führten Menschen zwei bis drei Beziehungen im Leben: die erste, prägendste mit den Eltern, dann mit dem Partner, dann vielleicht mit den Kindern, vielleicht auch einmal mit einem neuen Partner. Heute haben wir lange Single-Phasen zwischen unseren Beziehungen, in denen wir aber auch kleine Beziehungen eingehen. Alle diese Beziehungen enden mit Trennungen und jede Trennung verletzt den Selbstwert. Und der Selbstwert ist das Zentrum des Bindungsverhaltens. Ist der Selbstwert stark, ist das Bindungsverhalten sicher, ist der Selbstwert verletzt, ist das Bindungsverhalten entweder ängstlich (also um den Partner bemüht) oder vermeidend (also nur auf sich selbst verlassend).
Je mehr Beziehungen wir führen, umso mehr Trennungen erleben wir
Menschen mit verletztem Selbstwert entwickeln Schutzstrategien, um diese Verletzungen zukünftig zu vermeiden. Diese Schutzstrategien unterscheiden sich nach ihren individuellen Glaubenssätzen. Wer überzeugt ist, nicht genug zu sein, also dass man sich Liebe verdienen muss, der wird ein ängstliches Bindungsverhalten zeigen, sich um Liebe bemühen, dem Partner immer wieder zeigen wollen, wie liebenswürdig man doch sei. Wer jedoch überzeugt ist, dass nur die Kontrolle über sich selbst, also Autonomie und Selbstbestimmung, zum Ziel führt, zeigt ein vermeidendes Bindungsverhalten.
Es stehen sich hier also Verlustangst und Bindungsangst gegenüber, aber es sind die zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich der verletzte Selbstwert. Es ist gut erforscht, wie sehr sich genau diese Typen gegenseitig anziehen. Denn der vermeidende Typ erhält Anerkennung durch den ängstlichen Typ. Und der ängstliche Typ kann aufgehen in seinem Bedürfnis, sich zu bemühen, da sich das Gegenüber zurückziehen wird, sobald es ihm wieder zu eng wird.
Nach meiner Beobachtung nehmen Verlustangst und Bindungsangst zu und das sind die eigentlichen Gründe für das Phänomen „beziehungsunfähig“. Je mehr Trennungen und Verletzungen Menschen erleben, umso größer ihre Furcht vor neuen schlechten Erfahrungen und umso intensiver ihre Schutzstrategien. Eine Strategie ist: „Ich will beweisen, dass ich liebenswürdig bin.“ Eine andere ist: „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen, um nicht verletzt zu werden“ – ein typischer Satz eines Menschen, der Autonomie als Schutzstrategie verwendet. So wird Dating zwangsläufig frustrierend.
“Beziehungsunfähig” ist die Kapitulation vor Bindungs- und Verlustangst
Wer Bindungsangst verspürt, setzt Freiheit und Autonomie der Liebe entgegen, dabei ist echte Liebe immer frei. Denn nur wer freiwillig bleibt, liebt tatsächlich. Permanente Furcht vor Untreue, das Klammern des Partners, schmerzhafter Kampf um eine längst gescheiterte Beziehung hingegen sind Ausdruck von Verlustangst. Menschen mit Verlustangst sind überzeugt, dass Liebe jede Anstrengung wert ist – auch wenn dies Selbstaufgabe bedeutet und jahrelangen Schmerz.
Fritz Riemann zeigte in seinem Werk „Die Grundformen der Angst“ auf, dass alles menschliche Streben geprägt ist von Furcht und alle Verhaltensweisen erlernt wurden, um Angst zu vermeiden. Der Chaot fürchtet den Stillstand, der Konservative die Veränderung. Wer keine Bindung eingeht, vermeidet den Schmerz der Trennung. Wer nicht vertraut, muss Enttäuschung nicht fürchten. Wer sich nicht entscheidet für einen Partner, hat zumindest nicht die falsche Wahl getroffen.