Offener Brief an den Mann, dem ich zu viele Lügen erzählte

Eigentlich fragte ich nie nach dem Du. Ich fragte nie, wie es dir ging, was du jetzt machst oder wo du jetzt warst. Eigentlich fragte ich immer nur, ob du schon Brötchen geholt hast, beim Bäcker warst oder nach der Arbeit nochmal beim Italiener vorbeifahren könntest. Ich fragte immer nur, ob du mir mal den Rücken eincremen könntest oder ob du mir ein neues Paar Schuhe kaufen möchtest. Eigentlich fragte ich immer nur, ob du den Samstagseinkauf erledigen kannst, das Paket bei der Post abholen kannst und auf dem Weg ein zweites Mal beim Bäcker vorbeifahren könntest.

Eigentlich sprach ich nie von dem Wir. Eigentlich sprach ich immer von dem Du und dem Ich. Eigentlich wollte ich mir immer Freiheit lassen, Luft zum Atmen. Ich wollte eigentlich nie ein Wir mit dir. Ich wollte immer nur ein Du und ein Ich. Ich wollte Platz, Raum und frei sein. Frei von dir und frei von allen Wirs. Eigentlich passten wir von Anfang an in kein Wir. Eigentlich hatte jeder sein eigenes Wort. Ich das Ich und du das Du. Nur du merktest es nicht. Eigentlich drängten wir uns doch nie in ein Wort, immer nur auf einen Sitz oder in ein Bett.

Eigentlich war ich immer ganz anders. Ich wollte es dir nur nicht sagen. Ich wollte es dir nur nicht sagen, weil du mir das gabst, was ich gebraucht habe, wenn ich so war, wie ich eigentlich gar nicht war. Ich war für dich jemand, der ich gar nicht war, damit du für mich da warst und da bliebst. Denn du warst zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nahmst mir immer das Gefühl, dass die Luft nie genug sei und ich darin immer zu viel und gabst mir das Gefühl, dass da immer genug Luft ist: zum Atmen, zum Leben, zum Lieben, für dich und mich, aber niemals für uns.

Du gabst mir Leben und ich gab dir Lügen. Es tut mir leid. Ich wollte es dir viel früher sagen. Eigentlich war ich ganz anders.


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