Wir leben in einer immer mehr narzisstisch geprägten Gesellschaft und darunter leiden unsere Beziehungen und letztlich unsere Ansprüche an die Liebe. Ein Auszug aus dem Buch von Ingrid Strobel: “Entscheide, wen du liebst”
In letzter Zeit habe ich mich oft gefragt, ob ich langsam alt werde, weil sich der Satz meiner Großmutter immer öfter in meine Gedanken drängt: »Früher war alles besser …« Sobald man diesen Satz laut ausgesprochen hat, weiß das Umfeld, dass man mit der aktuellen Entwicklung nicht mehr Schritt halten kann; ein Zeichen des Alterns. Aber laut ausgesprochen hat ihn letztlich meine Tochter. Genervt vom Optimierungswahn und dem Unvermögen, sich für eine Sache zu entscheiden, weil noch etwas Besseres kommen könnte, ist ihr dieser Satz entglitten. Und sie teilt ihre Meinung mit vielen ihrer Altersgenossen. Sie sehnen sich scharenweise nach der einsamen Hütte in den Bergen. Suchen sich selbst auf den Pfaden des Jakobsweges oder finden sich beim Ausprobieren unterschiedlichster Meditationsformen wieder.
Wen wundert’s. Alles wird perfektioniert und optimiert.
Vom eigenen Körper über das eigene Denken bis hin zum Handeln. Unsere Vorbilder sind Kunstmenschen, bearbeitet mit Photoshop und stilisiert durch die Medien. Schöne, erfolgreiche Menschen, die stetig lächelnd allen Anforderungen des Lebens mit links gerecht werden. Ab und zu fällt einer aus der Reihe, rappelt sich wieder auf und wird als Held gefeiert. Diejenigen, die liegen bleiben, bekommen immerhin unser Mitleid. Sie haben es nicht geschafft, waren zu schwach oder haben es nicht verdient.
Es sind die Narzissten, die verstanden haben, welches Selbstoptimierungs-Potenzial in den Medien und in der virtuellen Welt steckt. Sicher, ein Optimierungs-Fake. Aber wen kümmert’s, der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Und der Zweck ist die narzisstische Befriedigung. Das Gefühl, einzigartig zu sein und von vielen geliebt zu werden. Ein Multiplikationsfaktor für Liebe? Weit gefehlt. Auch die Liebe ist in diesem Zusammenhang nur eine Illusion. Und multiplizieren lässt sie sich generell nicht. Aber sie kann wachsen, vorausgesetzt, sie bekommt entsprechende Nahrung.
Wo es viele Narzissten gibt, ist auch die Gesellschaft narzisstisch geprägt. Narzissmus per se ist noch nichts Schlimmes. Eine kleine Prise davon schadet nicht. Ohne einen gesunden Narzissmus gäbe es kein Streben und keine Entwicklung. Wir brauchen ihn also. Und die Spannbreite zwischen gesundem Narzissmus und seinen krankhaften Auswüchsen ist recht groß. Doch zurzeit wird das untere Ende immer dichter und das obere Ende immer lichter. Das Ich und die glanzvolle Selbstdarstellung sind zur Religion geworden. Sich um den anderen zu kümmern, sich verantwortlich zu fühlen sind Lippenbekenntnisse geworden, die immer weniger ihre Erfüllung finden, aber vom narzisstischen Gegenüber vehement eingefordert werden, ohne dass es sich selbst in der Pflicht sieht.
Es fehlt an Empathie
Wir haben alles im Überfluss in unserem Schlaraffenland der unbegrenzten Möglichkeiten. Und doch erleiden wir einen Mangel. Es fehlt an wertvollen Empfindungen wie Empathie, Zufriedenheit, Liebe, Geduld, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Selbstwert und Verbindlichkeit. Grundlagen der Menschlichkeit, ganz besonders im Kontext der Zweisamkeit. Dabei leben wir in der Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen, weil es zu viele Möglichkeiten der Optimierung gibt. Wir sind getrieben und zerrissen zwischen der Fülle an Angeboten. Es stresst uns ungemein, immer glänzen zu müssen, immer hervorragende Leistungen zu bringen – und dabei sich selbst nicht mehr im Spiegel zu erkennen, weil man dem Strom der Masse folgt, um nicht in der Einsamkeit verloren zu gehen.
Die Schönheitsindustrie ist einer der vielen Gewinner des narzisstischen Bedürfnisses nach immerwährender Schönheit und Jugendlichkeit. Da wird am Körper geschnipselt, mit Botox die Mimik eingefroren, und eingefallene Wangen werden mit Hyaluronsäure aufgepumpt. Und das manchmal so lange, bis der geschundene Körper einer absurden Statue gleicht, mit starrem Blick, ohne jegliche Regung. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde manche Errungenschaften der plastischen Chirurgie wirklich segensreich. Aber auch hier macht die Dosis das Gift. Viele Eingriffe im Namen der Schönheit bleiben fragwürdig und nehmen dem Menschen seine Einzigartigkeit.
Natürlich ist ein durchtrainierter Körper, ohne jeglichen Makel schön anzusehen. Aber ganz ehrlich: Was für ein Stress, da mithalten zu müssen.
Ich stelle mir eine Beziehung zu einem perfekten Menschen äußerst unentspannt vor.
Perfektion spiegelt unseren eigenen Makel. Das ist nicht sonderlich selbstwertstärkend. Für den einen oder anderen mag es ein Ansporn sein, seinen eigenen Körper zu optimieren. Aber es ist und bleibt ein Rennen gegen die Zeit. Der Körper verfällt, ob wir das wollen oder nicht. Alle Straffungsversuche, Diätfoltern und Muskelaufbauversuche fallen irgendwann zwangsläufig dem natürlichen Alterungsprozess zum Opfer. Paradoxerweise lieben wir an anderen nicht das Perfekte, sondern das Unperfekte, das Unverkennbare, das Authentische. Und wie gerne schauen wir in ein lachendes Gesicht, dessen strahlende Augen von Lachfältchen umsäumt sind. Wir zerstören mit unserem Schönheits-und Jugendlichkeitswahn das, was wir lieben. Ein seltsames Paradox, das eine narzisstische Gesellschaft kennzeichnet.
Wenn wir die Anstrengungen, die wir für das Ideal der Schönheit auf uns nehmen, in die Pflege unserer Persönlichkeit investieren würden, dann wäre unser Miteinander weit entspannter. Irgendwie wissen alle, dass es so ist, und trotzdem können sich viele aus dem Sog nicht befreien, machen den ganzen Hype mit, quälen sich im Namen der Schönheit und sind immer wieder frustriert, dass all ihre Mühe keine, aber wirklich überhaupt keine Auswirkung auf das hat, was sie wirklich damit bezwecken möchten: geliebt zu werden.
Eine narzisstische Gesellschaft formt sich aus vielen narzisstischen Menschen. Jeder einzelne Narzisst weist die besagten Mängel auf, welche die Gesellschaft insgesamt widerspiegelt. Um diesen Mangel auszugleichen braucht ein Narzisst andere Menschen, solche, die sich gerne in seinem Glanz baden und ihm deshalb gerne zu Diensten sind. Sie müssen für Ausgleich sorgen, für die guten Gefühle, für Empathie und Liebe, ohne dies im Gegenzug jemals für sich erwarten zu können.
Natürlich frage ich mich, wie dieser Tauschhandel in Zukunft funktionieren soll, wenn es immer mehr Menschen gibt, deren eigenes Wohl das Zentrum ihres Denkens und Handelns ist. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Paarbeziehung an einen narzisstischen Partner zu geraten, wird immer höher, und damit sinkt auch die Wahrscheinlichkeit auf eine Beziehung, in der die Liebe sich entwickeln kann und einen fruchtbaren Boden zum Wachsen findet.
Ingrid Strobel
Entscheide, wen du lieben willst – In der Vernunftehe das wahre Glück finden
ISBN: 978-3-86882-789-7
mvgverlag