Nun weicht die Leidenschaft in Langzeitbeziehungen aber nun einmal der Vertrautheit, weil Sehnsucht und sexuelle Fantasie von dem Unbekannten genährt werden. Mit einem Fremden ist in der Fantasie „alles möglich“, der Partner mag ein 3-Sterne-Erlebnis sein, aber jeder Gang ist bekannt und wurde bereits erlebt. In der Beratung sitzen oft Paare, die sich lieben, die aber ohne neue Erlebnisse lieber ganz auf Sex verzichten. Ist das unvermeidbar?
Der Philosoph Franz Josef Wetz („Lob der Untreue. Eine Unverschämtheit“) stellt die Theorie auf: „Alle, die sagen, sie hätten nach vielen Jahren noch den Sex wie zu Beginn ihrer Beziehung, lügen.“
Lügen, Untreue, Eifersucht, Enttäuschung, Treuetest, Liebeskummer, Trennung, das ist eine beklagenswerte Agenda, die Liebe soll doch glücklich machen, das ist unser Wunsch. Was läuft hier falsch? Meine Antwort ist, dass wir selbst schuld am Unglück sind, wir wollen einfach zu viel von der Liebe: Ruhe und Sicherheit, Aufregung und wilde Erotik in einem, das geht einfach nicht. Und das wiederum ist historisch gesehen keineswegs neu. Es ist heute zwar wesentlich einfacher, zu betrügen, weil wir erstens die logistischen und organisatorischen Mittel dazu haben und wir uns zweitens auch als Mann nicht mehr im Morgengrauen duellieren müssen oder als Frau erdolcht werden, wenn man uns erwischt.
Die Sehnsucht jedoch, in fremden Gärten zu wildern, gab es schon immer. Sie ist eine anthropologische Grundkonstante, ein Widerspruch, der in der Liebe selbst liegt. Der Philosoph Søren Kierkegaard schreibt in seinem Traktat „Entweder – Oder“ (1843): „Die Liebe begehrt nur einen zu lieben und hat darin ihre Glückseligkeit, sie begehrt nur einmal zu lieben und hat darin ihre Ewigkeit.“ So ist das, aber der kluge Kierkegaard führt weiter nüchtern aus, dass das Ewigkeitsbewusstsein illusorisch ist …
Bleiben wir in der Vergangenheit: Wann ist die Treue Bestandteil der Liebe geworden?
Ich würde das anders formulieren: Seit wann finden sich die Menschen ganz schlecht damit ab, dass ein loderndes Feuer nicht ein halbes Jahrhundert am selben Ort brennt? Seit wann haben wir ein Verständnis von Liebe, das mit der rigiden Anspruchshaltung einhergeht: Ich habe ein Recht darauf, dass Herzenstreue und sexuelle Treue und Leidenschaft und Seelenverwandtschaft und Geistesverwandtschaft und das alles noch mit zwei Jobs, drei Kindern und einem Haustier Hand in Hand geht.
Dieser Forderungskatalog ist das Resultat einer Idee von Liebe, die entstanden ist, als man anfing, Liebe und Ehe zusammen zu denken. Dabei war die Ehe die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte eine Einrichtung, in der es um die bloße materielle Existenz ging. Das Überleben und die Erbfolge sollte gesichert werden. Im ersten Fall kämpften arme Bürger mit ihrem Ehepartner zusammen um das tägliche Brot, im zweiten Fall sicherten Aristokraten mit einer Ehe ihre Macht und hatten ansonsten für die Liebe eine Mätresse oder einen Liebhaber. Erst seit der Epoche der Romantik ist die Verbindung von ewiger Liebe und ewiger Treue, die in einer Ehe optimal gedeiht, eine Idee, die unser Beziehungsverhalten bestimmt.