111 Gründe, an die große Liebe zu glauben

Über das größte Gefühl der Welt – ein Buch über die Liebe. Für alle, die an die große Liebe glauben, und auch für die, die noch zweifeln. Ein Buchauszug

Grund 2: Weil seine handgeschriebenen Nachrichten unser Herz zum Hüpfen bringen

Der Typ, der da am Volleyballfeld im Freibad neben mir sitzt, brummt die ganze Zeit seltsam vor sich hin. Ich bin mir nicht sicher, ob er einen Frosch im Hals hat, ob das Allergien sind oder was ihn sonst quält, aber es klingt mit anhaltender Dauer leicht beunruhigend. Während ich noch überlege, ob es mir gelingen kann, im Schneidersitz unauffällig etwas von dem Kerl abzurücken, merke ich bereits, dass er stattdessen daran arbeitet, die Lücke zwischen uns zu schließen. Ich merke zudem, dass es im Schneidersitz unmöglich ist, irgendetwas unauffällig zu tun — und kapituliere. Immerhin, jetzt, wo nicht mal mehr das Buch, mit dem ich eigentlich beschäftigt bin, zwischen uns passen würde, wird mir klar, es ist zumindest keine Gefahr im Verzug: Der Typ erstickt nicht etwa — er summt. Und dabei strahlt er mich mit einer Mischung aus Stolz und Erwartung an, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Siebzehn Jahr, blondes Haar

»Gefällt’s dir?« — »Was?« — »Das Lied?« — »Keine Ahnung. Was is’n das?« Er wirkt ein bisschen verunsichert, weil ich den Song nicht identifiziert habe. »Na, Udo Jürgens. Siebzehn Jahr, blondes Haar. Kennst du das?« Ich kenne den Titel nicht, was einigermaßen überraschend ist angesichts der leicht traumatisierenden Tatsache, dass meine Eltern die Udo-Iürgens-Scheiben nur aus dem Plattenspieler nehmen, um sie kurzzeitig mit denen von Gitte Haenning oder Milva zu unterbrechen. »Nie gehört.« Der Typ rückt tatsächlich noch etwas näher an mich ran — und fängt allen Ernstes an zu singen: »Siebzehn Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir. Siebzehn Jahr, blondes Haar, wie find ich zu dir? Sie hat mich angelacht und war vorüber. Da war’s um mich geschehen.« »Ich hab dich aber überhaupt nicht angelacht«, entgegne ich einigermaßen unfreundlich. »Und ich bin auch nicht 17.«

Damit hätte diese Beziehung bereits im Frühstadium zu Ende sein können, aber so leicht lässt der Typ sich offensichtlich nicht abwimmeln. Ob ich neben ihm sitzen bleibe, weil mir seine Hartnäckigkeit imponiert, weil mir inzwischen die verknoteten Beine eingeschlafen sind oder weil ich mit meinen 13 Jahren vielleicht ein klein wenig geschmeichelt bin davon, dass dieser ganz offensichtlich ältere Junge sich für mich interessiert — keine Ahnung. Am Ende unterhalten wir uns den kompletten Nachmittag, und als er mir beim Aufbrechen erzählt, er werde den Rest des Sommers mit seinem älteren Bruder auf Weltreise sein, lasse ich mir für die vollmundig angekündigten Postkarten meine Adresse entlocken.

Ich grüße und küsse dich und melde mich bald wieder

Etwas mehr als eine Woche später liegt tatsächlich die erste Nachricht in meinem Briekasten, abgestempelt in Italien. In einer Schrift, die ich für erwachsener und weniger krakelig halte als die der Jungen in meinem Alter, beschreibt der dunkelhaarige Udo-Jürgens-Anhänger aus dem Freibad seine erste Reiseetappe, den Markusplatz in Venedig und den unvergleichlichen Geschmack von original italienischem Eis. Die Karte schließt mit den Worten »Ich grüße und küsse dich und melde mich bald wieder« – und ich bin auf der Stelle verloren. Nichts, was der Junge an jenem Tag neben dem Volleyballfeld von sich gegeben hat, auch nicht sein mutiges Ständchen, hatte mich auch nur annähernd so beeindruckt wie diese Zeilen. Ich sehe ihn direkt vor mir, wie er in der italienischen Sonne an einem Postkartenständer, der sich nur schwer drehen lässt, nachdem richtigen Motiv für mich sucht, wie sein Bruder ihn zur Eile drängt – doch er lässt sich nicht beirren. Ich habe das Bild vor Augen, wie er im Cafe’ an einer belebten Strandpromenade unter einem Schirm sitzt, sorgfältig Wort für Wort abwägt und so bedächtig an seiner Karte arbeitet wie die alten Künstler an den Kulturwerken, die sich über die ganze Stadt verteilen. Wie sein Bruder längst die Sonne genießt und im Meer schwimmt, er aber ist noch nicht so weit, er braucht noch Zeit, damit die Karte perfekt wird.

In den folgenden Tagen gehe ich mit seiner Post auf dem Nachttisch ins Bett und wache mit dem Gedanken an den Briefkasten auf, getrieben von der Frage, wann ich die nächste Karte darin finden werde, gezeichnet mit: »Ich grüße und ich küsse dich und melde mich bald wieder« So gehen die Wochen ins Land und der Sommer vorüber. Ich lese seine magischen Zeilen so oft, bis sie ganz blass geworden sind — und meine Ungeduld weicht erst stacheliger Verwunderung, dann echter Enttäuschung: Ich habe nie wieder etwas von dem Jungen aus dem Freibad gehört.

Noch 110 weitere Gründe, an die große Liebe zu glauben, lesen Sie hier:

Mara Braun
111 Gründe, an die große Liebe zu glauben
9,99 €
ISBN 978-3-86265-454-3
Verlag: Schwarzkopf & Schwarzkopf


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