Mein Vater ist 90 geworden, aber ich habe ihm nicht gratuliert. Wir hatten seit dreißig Jahren keinen Kontakt mehr. Eines Tages bekam ich eine Nachricht meines Vaters via Social Media. Nach einigen Wochen Überlegung traf ich die Entscheidung, ihn wieder zu sehen. Ich bin in den Flieger gestiegen und habe ihn in der Schweiz besucht, um einen Nachmittag mit ihm zu verbringen. Reden, Zuhören, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Kein einfacher Schritt nach so langer Zeit. Vater und Sohn und dennoch zwei fremde Menschen, die versuchen, einen Dialog – der nie stattgefunden hat – aufzunehmen. Wir saßen im Restaurant eines noblen Hotels mit traumhaftem Blick auf den Genfer See. Alles dort strahlte einen morbiden Charme aus und mit dem nötigen Kleingeld kann man sich in diesem Land wunderbar von der Außenwelt abschotten.
Meinem Vater die Hand reichen
Da ich mich damals sehr für Buddhismus interessierte, dachte ich mir, dass es meinem Karma nicht schaden könnte, etwas mehr Mitgefühl zu zeigen. Ich wollte diesen Menschen kennenlernen, bevor es zu spät wäre. Mein damaliger Psychotherapeut ermutigte mich, diesen Schritt zu wagen. Meinem Vater die Hand zu reichen, fiel mir nicht leicht, aber ich wollte eines Tages nicht bereuen, diesem Konflikt aus dem Weg gegangen zu sein. Die Abwesenheit meiner Eltern hatte mein ganzes Leben geprägt. Meine Mutter lebte schon seit vielen Jahren nicht mehr, also blieb nur noch die Möglichkeit, meinem Vater einige Fragen zu stellen. Warum er mich als ich erst fünf Jahre alt wurde in ein Internat in ein fremdes Land schickte? Warum ich erst nach sieben Jahren dort zu ihm in die Schweiz ziehen konnte? Oder warum er mich nie während des Studiums finanziell unterstützte?
Er war immer noch unfähig, sein Herz zu öffnen
Er versuchte mir, seine Sicht der Dinge zu erklären. Kein Bedauern, keine Spur von Reue. In seinen Augen nur die Tatsache, dass er damals keine andere Wahl hatte. Er musste manchmal im Leben schwierige Entscheidungen treffen. Für die Karriere, gegen eine Familie, die er sich nie gewünscht hatte, gegen Kinder, die er nie in die Welt setzen wollte. Ich saß einem alten Mann gegenüber, der geistig sehr wach war, der noch all seine intellektuellen Fähigkeiten besaß und Bücher für einen kleinen elitären Kreis schrieb. Auf der anderen Seite war er immer noch unfähig, sein Herz zu öffnen, Gefühle zu zeigen und mich in die Arme zu nehmen. Nur einmal signalisieren, dass er stolz sein kann, einen Sohn zu haben, der trotz allem sein Leben meistert. Da ich nichts Besonderes erwartet hatte, konnte ich auch nicht wirklich enttäuscht werden. Ich vermute, dass er sich überfordert fühlte. Er wiederholte ein Verhalten, das er aus der eigenen Kindheit kannte. Auch meine Großeltern hatten sich mehrmals scheiden lassen.