Von Tinder zu Parship
Und noch etwas Liebesfeindliches kommt dazu: das Effektivitätsdenken, die Angst vor langfristigen Bindungen ohne Sinn und Zweck. Verbindungen müssen etwas bringen. Tun sie das nicht sofort, wird schnell weiter geswipt. Ist da nicht jemand, der mehr verspricht? So werden wir zum Controller unseres eigenen Liebeslebens. Leider verlernen wir dabei, dass es auch Freude machen kann, sich in etwas zu vertiefen, seien es Interessen oder Beziehungen.
Wer Hartnäckigkeit oder Ausdauer verliert, verliert Lebensqualität, so der Autor und ehemalige Lehrer Andel Müller: Die ›Wisch- und Weg-Kultur‹ führe »(…) zum Verlust der Belohnung einer tiefsitzenden Zufriedenheit, die erst durch intensive Bemühung möglich wird. Und natürlich sind alle intensiveren Beschäftigungen dazu geeignet, den Menschen während seines ganzen Lebens weiterzubilden, auch charakterlich zu entwickeln und somit kritischer und selbst- ständiger zu machen.«
Es endet, wie es beginnt: mit einem Wisch. Wir streicheln die Handy-Oberfläche mehr als die Haut eines Anderen. Der Schriftsteller Mirko Bonné, der so klare wie schöne Worte für das Zusammensein in der Dating-Welt findet, schreibt: »Von einer Trennung lässt sich nur sprechen, wenn es zuvor eine Verbindung gegeben hat. Falls nicht, geht man halt wieder auseinander, verabschiedet sich voneinander oder nicht einmal das. Bitter. Doch meiner Erfahrung nach spiegelt das Aus einer Liebe deren Anfang wieder. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Paar, das zusammengefunden hat, indem zumindest einer von beiden den früheren Partner hintergangen hat, genauso auseinandergeht, weil einer von beiden den anderen hintergeht. Wer sich über »Tinder« oder welche Netz-Spielart auch immer kennenlernt, muss sich nicht wundern, wenn der einmal Gefundene ebenso mir nichts, dir nichts wieder verloren geht.«
Trennung kann nur nach einer Verbindung erfolgen
Liebe lässt sich ebenso wenig wie Freundschaft mit einem Klick herbeiführen: »Sie muss vielmehr wachsen. Neben Hass und Scham ist sie ältester Ausdruck menschlichen Miteinanders. Liebe braucht – oh Gott! – Zeit, Muße, Sinne, Sinnlichkeit, Scheitern, Neuanfang, Geschichte, Ausblick. Jedes kurze Gespräch von Angesicht zu Angesicht macht die Unterschiede zu einem Mail-Austausch eklatant deutlich. Woher soll denn Empathie (ein Modebegriff) kommen? Einfühlsamkeit ist kein Zauber, sondern Ergebnis langsamer, langwieriger (Selbst-)Befragungen. Alle leiden wir unter dem Husch-husch unserer Zeit, aber haben alle keine Zeit, etwas daran zu ändern. Wer sich die Zeit nicht nimmt, wem sie zu teuer ist, der soll doch bitte zum Teufel gehen. Um alle sonst ist es schade.«
“Ghosting – Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter”
Autorin: Tina Soliman
Verlag: Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-96337-3
erhältlich u.a. bei Amazon*
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