Ich weiß noch sehr genau, wie ich mich fühlte, als ich ins Ziel stolperte. 4 Stunden, 3 Minuten. Glücklich. Unbeschreiblich glücklich. Als hätte die ganze Welt mich einmal umarmt. Als hätte ich etwas Bedeutsames wie den Nobelpreis für Physik erhalten. „Du hast es geschafft, du kannst stolz auf dich sein“, sagte meine Beziehung. Und ich sagte: „Das nächste Mal unter 3:30!“ Mich zu bedanken für ihre Geduld und Unterstützung, daran dachte ich nicht einmal. Geschweige denn für ihr Lob. Nicht aus Bosheit, nicht aus Frust. Ich war auf Droge und dachte nur an den nächsten Schuss. Andere Gedanken gab es nicht.
Um es kurz zu fassen: Die Beziehung dauerte noch drei Wochen und ich begann, für den nächsten Marathon zu trainieren. Da war nicht einmal Frust, eher Erleichterung, dass mich niemand mehr zuhause halten wollte. Danach kam Triathlon dran. Nun verteilte ich auf eine Woche nicht mehr nur Laufeinheiten, sondern auch Radtouren und Kachelzählen im Schwimmbad. Das ging knapp drei Jahre lang, in denen der einzige zwischenmenschliche Kontakt kurze Sex-Abenteuer waren, aus denen nichts wurde, weil ich danach duschte und flüchtete, Wash & Go eben.
Mein Freundeskreis war mittlerweile verschwunden. Niemand wollte meine Wettkampfgeschichten hören. Die waren alle gleich. Nur die Orte klangen toll: Marathon in Berlin, in Hamburg, in London, in New York. Triathlon in Zürich, auf Lanzarote … Einmal besuchte ich Bekannte in München. Zufällig war am nächsten Tag ein Marathon. Ich meldete mich an, was sonst? Statt wie verabredet einen Tag am See unter liebevollen Menschen zu verbringen, trabte ich allein mit meinen Gedanken unter Tausenden Fremden durch die Innenstadt. Als ich abreiste, sah ich zum ersten Mal in den sorgenden Augen, die mich anblickten, dass da etwas mit mir geschah, über das ich die Kontrolle verloren hatte.
Nun will ich keinesfalls jedem Marathon-Läufer, oder den sogenannten „ambitionierten Freizeitläufern“, eine Sucht unterstellen. Laufen macht Spaß, Laufen ist gesund. Bitte, bitte, lauft! Bei mir persönlich jedoch war die Sucht eine Flucht. Laufen ist erwiesenermaßen ein gutes Antidepressivum, aber eines, das nun einmal auch abhängig machen kann. Gewiss ist es wohl dosiert gesünder als jede Chemie, aber ich habe mir alle meine Gelenke kaputt gemacht, weil ich nicht aufhören wollte und konnte. Es gab in meinem Tagesablauf keinen anderen Höhepunkt als den Sport. Beim Training fühlte ich mich großartig, die übrige Zeit war ich niedergeschlagen, frustriert und mit den Monaten, als mein Körper begann, deutliche Abnutzungserscheinungen zu beklagen, wurde ich wütend und zornig. Denn ich konnte jetzt nicht mehr so, wie ich wollte. Wenn der Geist beginnt, den Körper zu verachten, in dem er lebt, dann ist das ein ganz deutliches Alarmzeichen, dass es so nicht weitergehen kann.
Schließlich beendete mein Körper den Spuk. Erst musste das rechte, dann das linke Knie operiert werden. Mit Krücken saß ich nun an der Alster und sah den anderen zu, wie sie rannten. Das gab mir genug Zeit, festzustellen, dass ich nicht gelaufen, sondern vor allem davongerannt war. Vor mir, vor anderen Menschen, vor meiner Beziehung und der Leere, wenn ich mich nicht zu beschäftigen wusste.
Heute laufe ich wieder, nur ein bis zwei Mal die Woche, und fast immer gemeinsam mit meiner neuen Beziehung. Mir genügt die kleine Dosis. Denn die Dosis macht das Gift. Selbst bei etwas Gesundem und Gutem wie Sport.