Sicherheit in der Liebe? Ein schöner Widerspruch!

In ihrem Buch “Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter” beschreibt Tina Soliman wie traumatisierend der plötzliche Kontaktabbruch ohne Erklärung sein kann. Und warum “Ghosting” Symptom eines gesellschaftlichen Problems ist.

Näher betrachtet gibt es diese Verhaltensweisen schon viel länger

Und sie passen zu dem, was aus Beziehungen geworden ist. Alles passiert im Zeitraffer. Ein mühseliges und kompliziertes Schlussmachen kann man sich schenken – so wie man sich auch die langsame Annäherung spart. Dating-Plattformen haben die Begegnung, die einst absichtslos geschah, sich bestenfalls magisch einstellte, das vorsichtige Sich-näher-Kommen in ihr Programm eingespeist, berechnet und damit beschleunigt. Nähe wird auf Knopfdruck produziert, die Auswahl berechnet. Die Magie der absichtslosen Annäherung: abgeschafft. Das Flirten: spart man sich. Das vorsichtige Kennenlernen? Es geht auch schneller.

Dabei erfasst das Algorithmus-generierte Kennenlernen aber nicht mehr, was Annäherung bedeutet! Hält eine Begegnung nicht, was sie – oder eben der Algorithmus – versprach, wird sie beendet, bevor sie eine Chance hat, eine wirkliche zu werden. Ghosting gilt als das Lösungs-Mittel im technologischen Zeitalter. Das Internet führt uns vom Zeitalter der Wahl zum Zeitalter der Auswahl. Und: Auswahl impliziert natürlich auch Abwahl.

Wir haben uns für Ihr Buch ja auch darüber unterhalten, dass nach meiner Beobachtung die immer größere Anzahl von Beziehungen und Zurückweisungen in unserem Leben Verlustangst und Bindungsangst verstärken, während gleichzeitig der Wunsch nach einer Beziehung überromantisiert und die Partnerschaft als Hort der Sicherheit überidealisiert wird. Hat die Generation der Millennials Ihrer Beobachtung nach noch eine Chance auf realistische, beständige und erfüllende Beziehungen? 

Natürlich. Aber es ist schon irritierend, wie sehr viele Millennials auf Sicherheit aus sind und gleichzeitig die Liebe als extrem wichtig bezeichnen, sie geradezu idealisieren. Sicherheit in der Liebe? Ein schöner Widerspruch! Was für ein Bild haben Millennials von der Beziehung? Sie sprechen ja von der „Disneyfizierung der Liebe“. Das gefällt mir sehr gut! Denn auch ich bemerkte in den vielen Gesprächen, die ich mit jüngeren Dating-Apps Usern führte, ein krasses Wunschdenken, einen überidealisierten Anspruch. Der Andere soll so oder so sein. Die Liste dessen, was stört, ist oft sehr lang. Jede Eigenart des Anderen erscheint als Makel. Gesucht wird die glatte Oberfläche. Erträumt wird ein Aufgehen im Anderen, die totale Harmonie. Doch gefunden wird höchstens eine abgesicherte Schmalspurromantik, die nichts verspricht und alles beansprucht.  Die Romantik à la Hollywood schadet den realen Beziehungen. Denn sie halten die Realität auf Distanz. Was passiert nach dem Abspann?  

Viele sehnen sich nach einer dramaturgisch aufgepeppten Liebe, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen Realität und Fiktion. Sie wollen Glanz, keine Routine. Das Ideal wirkt verführerisch, aber die Realität hat mit Beziehungsarbeit, Alltag, auch Kompromissen zu tun. Absurderweise ist es also gerade die Überromantisierung der Liebe, die sie zerstört.

In Umfragen zeigt sich übrigens, dass vor allem jene, die von dem Einen oder der Einen träumen, vom Prinzen oder der Prinzessin also, besonders dazu neigen zu ghosten. Die Überromantisierung der Liebe führt so zu einem lieblosen Verhalten. Der Wunsch nach dem Ideal ist also zugleich das Problem. Ich habe ja eine klare Vorstellung vor Augen – nämlich so, wie sie das Kino vorgibt. Erzählung statt Erfahrung. Zeigen statt Erleben. Alles nur ein Film. 

Die Realität kann mit der Traumwelt nicht mithalten. Schiebt sich die kleinste Störung in das Idealbild, trennt man sich – wortlos. Auf Begegnungen aber müssen Konsequenzen folgen, wenn sie mehr werden sollen.

Was kann ein Lösungsweg aus dieser Falle sein? Braucht es mehr Beziehungskunde im Elternhaus oder in der Schule? Muss Liebe ein Schulfach werden?

Wie wäre es mit dem Schulfach „Anstand“? Verantwortung? Einfühlung? Humanität? Das „Elternhaus“ kann allerdings auch nur weiter geben, was es selbst lebt und erlebt hat. Mir fällt gerade eine Szene ein, die ich wirklich befremdlich fand. Die „Frankfurter Eintracht“ hatte gegen „Bayern München“ gewonnen. Doch die Verlierer verschwanden in der Kabine, ohne den Siegern zu gratulieren. Ein Bayern-Spieler erklärte später, dass ein Sieg nicht vorgesehen war und man keine Ansage hatte, wie man reagieren solle. Geht’s noch? Sollte man nicht immer wissen, wie man sich in solchen Situationen verhält? 

Ghosting ist Teil unserer Umgangskultur geworden

Und nun kommt die Digitalisierung ins Spiel. Ghosting ist gelebter Teil unserer neuen Umgangskultur geworden. Dabei gelten ja angeblich noch die alten Normen, etwa Verbindlichkeit, Beständigkeit und zwischenmenschlicher Respekt. Normen sind nötig, um eine Gesellschaft zusammen zu halten. Wenn solche Normen aber durch eine anders gelebte Praxis ausgehöhlt werden, untergräbt das den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wenn sich etwa Unbeständigkeit als neue Norm des digitalen Miteinanders durchsetzt, dürften die Folgen für das soziale Miteinander massiv sein. Denn wenn gesellschaftliche Normen wie Verbindlichkeit und Verlässlichkeit nicht mehr zählen und alles sich in Flüchtigkeit verliert, hat nichts mehr Bestand. 

„Digital Dating“ wirkt auf mich wie ein riesiges soziales Experiment. Das Verstehen von Beziehungen, um überhaupt Bindungen eingehen zu können, ist unendlich viel wichtiger als die permanente Suche, die häufig eher eine Ablenkung von der eigenen Beziehungsunfähigkeit ist und damit das Erfassen dessen, was geschehen ist, verhindert. Beziehungen verstehen bedeutet, aufrichtig handeln, bedeutet, wahr sein! 

Angst vor Nähe, vor potentieller Abwertung und Widerspruch, der als Bedrohung empfunden wird, Angst vor der falschen Entscheidung oder vor dem Verlust der Eigenständigkeit, enthält im Kern fast jede Geschichte, die mir erzählt wurde. Beinahe täglich schreiben mir Menschen aus der ganzen Welt, die sich mit Kontaktabbrüchen plagen: Verlassene ebenso wie Abbrecher. Junge wie Alte. Fast alle berichten von der Angst, sich festzulegen, sich falsch zu entscheiden. Überall Verwirrung und Unsicherheit. Doch ohne Vertrauen und ohne Entscheidung geht es eben nicht. Das bedeutet auch, dass man mit Widerspruch und versäumten Alternativen leben lernen muss. 


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