„Männer trauern anders“ – ein Buchauszug

Die Herangehensweise von Männern, mit ihrer Trauer umzugehen und den Schmerz zu bewältigen, unterscheidet sich deutlich von der weiblichen, weiß der Trauerbegleiter Thomas Achenbach. Zum Beispiel lässt sich die Trauer bei Männern, statt im Gespräch mit der besten Freundin, gut in Musik ausleben. Ein Buchauszug. Außerdem verlosen wir zwei Exemplare von „Männer trauern anders“

„Männer weinen nicht, Männer weinen nicht – sie schreien den Schmerz in sich hinein, wie sollte es anders sein?« So wie es der Rapper Sido und der Soulsänger Adesse in ihrem Lied »Männer weinen nicht« beschwören, ist es im wirklichen Leben tatsächlich auch noch allzu oft. Im Interview mit RTL 2 bekräftigte Sido: Männer, die viel weinen – »das sind schon Heulsusen«. Darauf hat der amerikanische Soulsänger Brian Owens auf seinem Album »The Soul of Ferguson« jedoch die richtige Antwort. Frei übersetzt singt er nämlich: »In dieser Welt heute sagen die Leute manchmal, dass ein Mann nicht weinen sollte. Aber wenn du dort gewesen bist, wo ich gewesen bin, und wenn du gesehen hast, was ich gesehen habe (…), dann weißt du: Das ist eine Lüge …« (»When a Grown Man Cries« heißt dieser Song). Und wer weiß? Vielleicht sind diese Zeilen schon dem einen oder anderen Mann in die Seele gesunken. Und wer einmal so eine Art »musikalische Erlaubnis« dafür bekommen hat, auch als Mann weinen zu dürfen, der tut das vielleicht auch. Warum auch nicht?

Wenn es einen Katalysator für Gefühle gibt, dann ist es die Musik. Auch Männer lassen sich davon gerne anstecken. Dort, wo es sozial erlaubt ist, lässt sich das oft beobachten: Im Fußballstadion, wenn Fangesänge und starke Emotionen alle mitreißen und zu einer Massenbewegung werden. Bei einem Rockkonzert, wenn alle die Arme hochreißen und einen gewonnenen Song mitsingen. Da entfaltet die Musik sehr eindrucksvoll ihre alle Menschen vereinende Kraft – und keiner macht sich mehr etwas aus Geschlechterfragen. Klar, dass diese Kraft besonders tiefgehend wirken kann, wenn es um Trauer geht.

In Deutschland hat das keiner besser umzusetzen verstanden als Herbert Grönemeyer. In seinem Song »Der Weg« findet er lyrische Worte für diese Entfremdung von der Welt, die die Trauer mit sich bringen kann: »Ich kann nicht mehr sehen, trau nicht mehr meinen Augen«, singt er. Und: »Bin viel zu träge, um aufzugeben …« Das drückt treffend aus, was viele erfahren, die einen Menschen an den Tod verloren haben: selbst fürs Aufgeben zu machtlos und zu müde zu sein, weil auch das eine bewusste Entscheidung wäre, für die doch die Energie fehlt.

Tragische Verluste durch das Komponieren von Musik zu bearbeiten, hat für Künstler Tradition. Von Antonín Dvořáks »Stabat Mater«, das er nach dem Tod mehrerer Kinder geschrieben hat, war bereits die Rede. Aber auch in der modernen Pop- und Rockwelt finden sich Beispiele. Am bekanntesten ist sicher Eric Claptons »Tears in Heaven«, das er komponierte, nachdem sein Sohn Connor im Alter von vier Jahren vom Balkon der im 53. Stock gelegenen Wohnung gestürzt und gestorben war.

Ebenfalls durch einen Sturz tödlich verunglückt ist im Sommer 2015 der 15-jährige Sohn des australischen Sängers Nick Cave; er stürzte nahe des Seebads Brighton wohl nach der Einnahme von LSD von einer der hohen Kreideklippen. Nur ein Jahr später nahm Nick Cave sein Album »Skeleton Tree« auf, das in vielerlei Hinsicht diese Todeserfahrung spiegelt, auch wenn er einen Großteil der Songs schon vor dem furchtbaren Unfall geschrieben hatte. Dass sie dennoch voller Abschiedsmetaphern stecken, voller düsterer Anspielungen, die man allzu leicht als Ahnungen aufladen könnte, ist ein bemerkenswerter Zufall, für den es aber vermutlich eine ganz banale Erklärung gibt: Denn Caves Zwillingssöhne waren 15, als das Unglück passierte. Das ist eine Phase, in der sich Eltern und Kinder zwangsläufig wieder voneinander entfernen (müssen), eine Phase der Abnabelung und der Trennung.

Dennoch beschreibt die Musik von »Skeleton Tree« vermutlich am besten, wie sich Trauer anfühlt. Gänzlich unprätentiös und ohne Kitsch sind die Songs – textlich wie musikalisch – beinahe meditative Definitionen von Verlorenheits- und Ohnmachtsgefühlen, vom Hin- und Hergerissensein zwischen Stillstand und einer Neugestaltung des Lebens. Traurig, fassungslos, melancholisch. Sie sind spürbar aus einem tiefen Bedürfnis nach kreativem Ausdruck entstanden.

So hat es auch der Filmmusiker Hans Zimmer empfunden. Nachdem in der Stadt Aurora im amerikanischen Bundesstaat Colorado am 20. Juli 2012 ein Attentäter in einem Kino um sich geschossen und dabei zwölf Menschen getötet hatte, während dort der Film »The Dark Knight« gezeigt wurde, komponierte der von diesem Ereignis tief getroffene Zimmer – der auch die Musik zum Film geschrieben hatte – kurzerhand ein achtminütiges Mini-Requiem, das mit seinen meditativen Chorpassagen an die spirituell suchenden und einen in der Tiefe der Seele berührenden choralen Meisterwerke eines Eric Whitacre erinnert. Entstanden ist diese Musik rein aus dem Bedürfnis, etwas zu tun angesichts des Dramas, ohne Auftrag, ohne Bezahlung.

Ein ebenso wuchtiges wie eindrucksvolles Gesamtwerk über die Themen Trauer, Tod und Sterben stellt Gustav Mahlers neunte Sinfonie dar. Im Jahre 1909 komponierte er sie unter dem Eindruck des Verlusts einer Tochter und nach einer vernichtenden Diagnose, den gesundheitlichen Zustand seines eigenen Herzens – unheilbar! – betreffend. Nach einer Mahler-Sinfonie sieht man nicht selten die Zuhörer ergriffen und scheinbar in ihrem Inneren durchgeschüttelt aus dem Konzertsaal kommen. Vor allem nach der Neunten ist das so: Der letzte Satz dieses Mammutwerks, das schon zu Beginn trotz aller anfänglicher Lebensfreude eine immer wieder durchdringende Todesgewissheit aufblitzen lässt, ist ein auskomponierter Sterbe- und Abschiedsprozess, der alle dazugehörigen Stadien und Phasen durchläuft, inklusive des Aufbäumens und der Wut und der Verzweiflung (mehr dazu im Anhang des Buches). Und der dann ganz am Ende in einen Ton mündet, der so leise wie selten etwas in einem Konzertsaal zu hören ist. Leise, immer leiser und dann nochmals leiser erstirbt auch dieser Ton irgendwann. In seiner über den Noten angegebenen Anweisung beschreibt Mahler dies als ein vierfaches p, eine Vortragsbezeichnung, die es in der Musik eigentlich gar nicht gibt. Aber es soll den Musikern eben die Idee vermitteln, am Ende nur noch so leise wie irgend möglich zu spielen – ein Finale von mystischer Qualität. Oder um es in den Worten des Philosophen und Musikwissenschaftlers Theodor W. Adorno zu sagen: Am Schluss blickt diese Sinfonie »fragend ins Ungewisse«. Ein Zustand, den Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise sicher kennen.

Es könnte also durchaus sein, dass sich Menschen in einer solchen Lebenssituation von dieser Musik dort abgeholt fühlen, wo sie gerade stehen oder wo sie sich niedergedrückt am Boden liegend erleben.

Schwer auszuhalten, weil so vollgesogen mit Trauer und Düsternis, sind dagegen, so meine ich, Gustav Mahlers »Kindertotenlieder«, für die er die unter gleichem Namen veröffentlichten Gedichte des Lyrikers Friedrich Rückert vertonte, die dieser nach dem Verlust der eigenen Kinder schrieb. Die von mir genannten sind bei Weitem nicht die einzigen Komponisten, die ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle in der Konfrontation mit dem Tod, der Trauer und dem Sterben durch Musik verarbeitet haben. Tatsächlich ist die Geschichte voll davon: von Wolfgang Amadeus Mozart bis Alban Berg, von Robert Schumann bis Karl Amadeus Hartmann, von den Toten Hosen bis zu Warren Zevon.

Aber es scheinen in der Welt der Musik vor allem Männer zu sein, die ihren Gefühlen kreativen Ausdruck verliehen haben. Das liegt zum einen natürlich daran, dass Frauen über viele Jahrhunderte gar nicht die Chance hatten, als Komponistinnen in Erscheinung zu treten. Ein weiterer Grund ist jedoch auch, dass diesem Schaffensprozess eine zutiefst männliche Logik zugrunde liegt, die schon in Kapitel 2 beschrieben wurde: Früher wie heute war es vor allem für Männer gesellschaftlich oft verpönt, die eigenen Gefühle direkt auszudrücken. Aber etwas zu schaffen, der Ohnmacht eine Handlung entgegenzustellen und seinem Inneren dadurch Ausdruck zu geben – diesem Bestreben begegnen wir immer wieder, wenn wir es mit Männern und ihrer Trauer zu tun haben. Ist also das Durchleben von Gefühlen durch Musik eine eher männliche Strategie? Mir jedenfalls scheint es so.

Dabei ist Herbert Grönemeyers »Der Weg« zugleich das Zeugnis eines typisch langen Leidensweges, wie er zur Trauer eben auch dazugehören kann. Dass er das Lied für seine an Krebs gestorbene Frau geschrieben hat, ist den meisten bekannt. Dass aber diesem kreativen Prozess eine lange Krise vorausgegangen war, in der auch Grönemeyers Kreativität zum Stillstand kam – wie auch alles andere –, weiß kaum jemand. Dem »Stern« berichtete der Sänger in einem Interview, dass es zwei Jahre gedauert habe, bis er wieder Songs schreiben konnte. Auch Nick Cave spricht in dem Film »One More Time With Feeling«, der die Aufnahmen des Albums »Sekeleton Tree« dokumentiert, von einer solchen Krise: Ein Trauma zu erleiden, wie er es erlitten hat, sei immer schädlich für einen kreativen Prozess, sagt er an einer Stelle.

Zwei treffende Beispiele dafür, dass Trauer auch gestandene Männer, erfahrene Profis im Showbusiness, lange zu Boden drücken und sie ihrer Fähigkeiten berauben kann. Vorübergehend zwar, aber lange. Auch das ist eine der Fragen, die Menschen, vor allem Männer, in einer Trauer- und Verlustkrise immer wieder beschäftigt: Wie lange wird es wohl dauern, bis es sich wieder anders anfühlt? Mein ganzes restliches Leben lang? Ein paar Jahre?

Meistens sind es tatsächlich mehrere Jahre, zeigen die Erfahrungen, nicht nur von Musikern. Und, wie bereits erläutert: Wer seine Emotionen irgendwie ausleben kann, sie nicht in sich hineinfrisst, der ist oft auf einem guten Weg.“

Thomas Achenbach, Männer trauern anders © Patmos Verlag, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2019

www.verlagsgruppe-patmos.de

Thomas Achenbach
Männer trauern anders
ISBN: 978-3-8436-1131-2
Verlag: Patmos Verlag


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