Aus der Sicht eines Narzissten – Ein Interview

Hinzu kommt, dass jeder Mensch unterschiedlich intensiv wahrnimmt und fühlt, denken wir nur mal an die Hochsensiblen oder Hochempfindlichen. Die einen verfügen über eine sehr große emotionale Empathie. Zuviel davon kann als Mitleid bezeichnet werden. Die anderen verfügen über eine sehr große kognitive bzw. soziale Empathie. Das heißt, sie sind in der Lage, Gefühle zu erkennen und diese nachvollziehen zu können, ohne aber dieses Gefühl sich zu eigen zu machen. In jedem Falle aber empfinde ich Mitleid als Missbrauch, d.h. ich brauche keinen, der mit mir mit leidet und deswegen selbst Trost braucht, weil derjenige dann für meine Gefühle nicht mehr empfänglich ist und zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist (zu Recht).

Es ist also kein Empathie-Defizit, sondern ein Empathie-Unterschied. Jemandem zu unterstellen, kaum oder keine Empathie zu haben, gibt einem deswegen nicht den Freifahrtschein, genauso wenig Empathie für die betreffende Person aufzubringen. Es ist nicht immer ratsam, zu viel Empathie (emotionale Empathie/Mitleid) zuzulassen. Angesichts des übermächtigen Elends könnte dies zur Bedrohung der eigenen Existenz führen. Auf diese Weise kann man nichts Vernünftiges bewirken. Ich möchte da gerne auf ein Beispiel von Paul Watzlawick zurückgreifen. Wenn ein Nichtschwimmer dem Ertrinkenden nachspringt und mit ihm untergeht, verdoppelt er damit nur das Unglück – aber er war empathisch.

Babys sehen heute aus dem Kinderwagen nur ein Gesicht, das von einem Smartphone verdeckt wird und keine aufmerksamen, zugewandten, liebevollen Eltern. Solche Kinder können ja gar nicht anders, als Narzissten werden, heißt es oft. Was meinen Sie?

Ich glaube nicht, dass jeder Mensch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln muss. Und ich glaube auch nicht, dass jeder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. Ich glaube aber, dass jeder Mensch mindestens eine narzisstische Akzentuierung hat oder zumindest eine Art und Weise hat, wie er sich vor vermeintlichen Angriffen/Verletzungen schützt. Natürlich ist das, was das Baby in diesem Moment erfährt, eher ungünstig für seine Entwicklung. Das Baby wird also bei ständigem Aufmerksamkeitsdefizit ausprobieren, wie es die Aufmerksamkeit erfährt, die es braucht. Und sicherlich wird die eine oder andere Strategie dabei auch eher dysfunktional ausfallen. Der bekannte Münchener Traumatologe Professor Franz Ruppert benannte diese als Traumaüberlebens- oder Traumabewältigungsstrategie. Das Baby wird also durch diese Erfahrung traumatisiert und entwickelt Verhaltensweisen, um das Gefühl, welches dabei entsteht, abzuwehren. Man sollte dabei auch hinterfragen, warum die Eltern ihrem Smartphone mehr Beachtung schenken als dem Kind.

Fühlen Sie sich nach Ihrer Therapie als besserer Mensch? Lässt sich überhaupt Persönlichkeit oder eine Persönlichkeitsstörung nach solchen Kriterien bewerten?

Eine Therapie macht man für gewöhnlich, wenn der Leidensdruck enorm ist. Dieser muss beim Betroffenen so groß sein, dass er selber etwas verändern will. Als Folge meiner Therapie konnte ich lernen, effektiver für mich selbst zu sorgen und damit Selbstmitgefühl zu entwickeln. Ich lernte also mir meiner selbst gewahr zu werden und wieder die Kontrolle zu erlangen über mein Leben. Eine große Hilfe war das Schreiben an meinem Buch, die Beziehung zu meinem Therapeuten und der Kontakt zu den Experten. Für mich ging es nie darum, ein „besserer“ Mensch zu werden, denn jeder Mensch ist gut, so wie er ist und gleich wertvoll. Es ging mir darum, dass es mir besser geht und das kann ich schon sagen. Ich fühle mich deutlich besser. Ich kann sogar wieder weinen und Trauer zulassen. Ich vergleiche mich allerdings nicht (mehr) mit anderen Menschen. Ich muss mich also auch nicht mehr behaupten oder über andere stellen. Mir war und ist Augenhöhe schon immer sehr wichtig gewesen. Diese kann ich nun deutlich besser halten als zuvor, denn ich bin wertvoll, weil ich wertvoll bin. Und ich bin dankbar, am Leben zu sein.

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