Hochsensibel: Angeboren oder erworben?

Ich habe gerade unter sehr empfindsamen Menschen viele Frauen und Männer kennen gelernt, deren Säuglings- und Kinderzeit von einer mangelnden Bindungserfahrung geprägt war. Es ist nachgewiesen, dass elterliche Ängste oder starke emotionale Schwankungen bereits auf das Kind im Mutterleib, aber auch nachgeburtlich und in den prägenden Folgejahren eine nachhaltige Wirkung ausüben. Wenn eine (werdende) Mutter zu viel Stress hat, so gibt sie die Stressanfälligkeit an ihr Kind weiter. Das Stressverarbeitungssystem gestaltet sich also nicht primär aus den ursprünglichen Genen, sondern die Gene verändern sich im Hirn des Kindes durch die Gemütslage der Mutter. Die Interaktionen mit der wichtigsten Bezugsperson prägen das Wesen des Menschen. Mit anderen Worten: Das Entscheidende ist nicht, welche Gene wir haben, sondern welche von ihnen durch Bezugsperson und atmosphärisches Umfeld aktiviert werden. Das lehrt uns die moderne Neurowissenschaft.

Eine total überforderte, vielleicht durch traumatische Erfahrungen verunsicherte Mutter, ein abwesender Vater, eine belastete Elternehe, eine mangelnde Verlässlichkeit in der Zuwendung, aktivieren im Kind alle Alarmglocken. Es schärft seine Antennen mehr und mehr, um die herrschende Stimmung herauszuspüren, um zu eruieren, ob etwas Bedrohliches im Raum steht. Eine andauernde Überwachheit entsteht. Nie weiß das Kind, worauf es sich einstellen muss. Unsicherheit statt emotionaler Sicherheit ist das vorherrschende Element. Und mangelnde Bindungserfahrung bedeutet höhere Stressanfälligkeit. Es braucht immer weniger Auslöser, dass das innere Alarmsystem aktiviert wird. Die überfein gewordenen Antennen nehmen Beunruhigendes mit großer Reaktivität auf. Das Kind reagiert auf sich wiederholende Verunsicherungen mit einer erhöhten Aktivierung der Stressgene. Das Auf-der-Hut-Sein wird zum Dauerzustand. Bereits geringfügige Schwingungen werden aufgenommen. Das Kind ist den Gefühlszuständen seiner Bezugspersonen ausgeliefert. Hier erkennen wir wesentliche Wurzeln der Hochsensibilität. Der Arzt und Neurobiologe Joachim Bauer formuliert es so: »Frühe Erfahrungen von mangelnder Fürsorge hinterlassen eine Art biologischen Fingerabdruck, indem sie das Muster verändern, nach dem die Gene später auf Umweltreize reagieren.«


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