Ich bin jedoch derart über mich erschrocken, dass ich Panik habe, dass ich es nicht mehr schaffe, die Kontrolle über mich zurückzugewinnen. Das Problem ist, dass Eva und ich beide sehr starke Charaktere sind, wir sind leidenschaftlich, wir haben schon immer leidenschaftliche Auseinandersetzungen gehabt, wir haben uns auch angeschrien, aber es war immer alles auf Augenhöhe, am Ende haben wir gelacht und uns geliebt. Wir sind wie Liz Taylor und Richard Burton, das hat Eva mal gesagt. Die haben allerdings mehr getrunken als wir, habe ich zu bedenken gegeben und dabei gelacht. Das große „Aber“: Das hat sich geändert, was mich angeht. Ich trinke mehr als früher, viel mehr.
Haben wir eine Meinungsverschiedenheit, Eva und ich, fühle ich mich Eva unterlegen, diese Minderwertigkeitskomplexe tauchen einfach aus meinem Unterbewusstsein auf wie ein hässliches Gespenst. Ich empfinde mich dann als Verlierer in jeder Hinsicht, im Leben und in diesem speziellen Streit mit Eva. Wenn ich nüchtern bin, geht es, ich kriege mich in den Griff, nicht immer, aber meistens. Habe ich ein paar Gläser Wein getrunken, eskaliert es. Ich habe dann eine unglaubliche Wut auf meine perfekte Frau, ich kann das alles im Nachhinein glasklar analysieren, ich analysiere das auch mit meinem Therapeuten, trotzdem wiederholt es sich, dass ich gewalttätig werde.
Ich muss diesen Kreislauf durchbrechen. Das beginnt damit, dass ich keinen Tropfen mehr trinke, das setzt sich damit fort, dass ich meine Seele beim Therapeuten auf den Tisch packe und hinsehe, was eigentlich mit mir los ist, dass ich an mir arbeite. Ich weiß, dass Eva mir nicht ewig eine Gnadenfrist gewährt. Sie ist bereit, das, was bei uns gerade geschieht, als Krise zu sehen. Das ist ein Geschenk an mich. Ich habe ihr auch nie sehr weh getan, ich weiß, das klingt schrecklich: „Ich habe ihr auch nie sehr weh getan“. Was wäre, wenn sie ein blaues Auge gehabt hätte, blaue Flecken am ganzen Körper, richtige Wunden, hätte Eva dann auch die Kraft gehabt, diese furchtbaren Geschehnisse als Ausdruck einer Krise zu sehen? Bestimmt nicht, Eva würde sich nicht die Nase brechen lassen und dann zu mir halten, ich bin sicher, sie lässt sich ihr Recht auf ihre Unversehrtheit nur begrenzt nehmen. Sie lässt sich jetzt in dieser Ausnahmesituation etwas von mir gefallen. Oh Gott, wie sich das anhört. Meine Frau lässt sich etwas von mir gefallen. Das ist eine verkehrte Welt, das darf nicht sein.“
Boris kann nicht weitersprechen, er kämpft mit den Tränen. Nach einer Weile sagt er leise: „Ich will jetzt nicht schweigen, das ist, wie wenn ich mich drücke. Ich will aussprechen, was ich mit Eva mache. Das ist schon wie eine Sühne, wenn ich es benenne. Okay, was tue ich ihr an? Ich schubse sie, ich ohrfeige sie. Ich schäme mich unendlich.“
Tabuisierung ist der Anfang vom Ende
„Ich schäme mich nicht“, sagt Eva kämpferisch. „Und ich verheimliche nicht, was bei uns passiert. Das ist der Anfang vom Ende, die Gewalt zu tabuisieren. Ich habe mich durch das Internet gegoogelt und erfahren: Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden, entwickeln einen eigenen psychologischen Mechanismus, einen verhängnisvollen, Verdrängen, Scham, Selbstanklage, Tabuisierung. Ich habe nichts damit zu tun, was Boris tut. Ich bin in Ordnung, er nicht. Ich erzähle das auch unseren besten Freunden, was ich durchmache, was wir durchmachen, wie ich es auch erzählen würde, wenn unsere Ehe aus einem anderen Grund in eine schwere Krise geraten wäre, wenn Boris sich in eine andere Frau verliebt hätte oder wenn ich mich verliebt hätte. Natürlich kann man das nicht damit vergleichen, dass Boris mir eine Ohrfeige gibt. Aber ich will versuchen, sachlich zu bleiben, wie gesagt, wir führen seit 17 Jahren eine Ehe, die immer traumhaft war.
Dieser Mann ist die Liebe meines Lebens. Ich kann ihm viel verzeihen, und ich habe mich entschieden, ihm das zu gewähren, dass ich ihm diese Zeit jetzt verzeihe. Wenn sie endet, wenn sie eine Phase ist. Ich habe mir selbst auch therapeutische Unterstützung geholt, ich möchte, dass noch jemand auf mich aufpasst, dass ich nicht doch anfange, mir in die Tasche zu lügen. Es geht existenziell darum, ob Boris für eine Zeit lang ein anderer Mann ist – und das aufgrund eines schrecklichen Ereignisses in seinem Leben, als Folge. Eine temporäre Wesensänderung also, die damit endet, dass er wie Phoenix aus der Asche steigt und sich in den alten Boris zurückverwandelt. Und es geht weiterhin darum, wie ich mit der Erinnerung an diese furchtbare Phase umgehe, ob die seelischen Narben verheilen, ob ich das Vertrauen in meinen Mann wieder zurückgewinne. Da mache ich mir nichts vor, vielleicht liegt „es“, vielleicht liegt die Gewalt in ein paar Jahren hinter uns, vielleicht wird nie wieder geschehen, was geschehen ist, Ohrfeigen, Schubsen, aber vielleicht vergesse ich es nicht mehr, vielleicht hat es unsere Ehe kaputtgemacht. Das wird sich zeigen.
Es ist alles eine sehr große Herausforderung für uns beide. Ich habe Boris eine Frist gesetzt. Ich habe meinem Mann einen Tag genannt, ab dann ist es vorbei, wenn ihm dann noch ein einziges Mal die Hand ausrutscht, verlasse ich ihn. Das ziehe ich durch, das weiß Boris. Ich benutze an dieser Stelle ganz bewusst die Formulierung „Hand ausrutschen“, sie ist für mich hier symbolträchtig, ihre tiefere Bedeutung soll sein: Es handelt sich bei uns wirklich um Ausnahmen in einer extremen Ausnahmesituation. Die Formulierung ist keine feige Beschönigung, sondern die Wahrheit. Das wünsche ich uns.“