Warum ist es so wichtig, das innere Kind (wieder) kennenzulernen?
Es ist wichtig, sein Schattenkind kennenzulernen, weil es ansonsten aus dem Unterbewusstsein agiert. In meinem Buch erzähle ich das Beispiel von Michael, der jedes Mal ausflippt, wenn seine Partnerin Sabine etwas vergisst, was ihm wichtig ist – und sei es nur, seine Lieblingswurst einzukaufen. Michael kennt sein Schattenkind nicht und deshalb ist ihm nicht bewusst, dass seine Wutanfälle (Schutzstrategie: Angriff und Attacke), eigentlich gar nichts mit Sabines Verhalten zu tun haben, sondern diese lediglich Salz in eine alte Wunde streut. So war Michaels Mutter mit vier Kindern und einer familiengeführten Bäckerei stark überfordert. Der kleine Michael kam also oft zu kurz und seine Wünsche wurden häufig nicht beachtet. Entsprechend haben sich in ihm Glaubenssätze gebildet, die lauten: Ich komme zu kurz! Ich bin nicht wichtig! Ich werde nicht beachtet! usw. Diese alten Gefühle werden jedes Mal getriggert, wenn Sabine seine Wünsche vermeintlich nicht beachtet. Würde Michael sein Schattenkind kennen, dann könnte er seine Gefühle viel besser regulieren, weil er dann in der Lage wäre, alte Verletzungen durch seine Mutter von dem Verhalten seiner Partnerin zu unterscheiden.
Welche Parallelen hat dieses Modell zur Transaktionsanalyse? Ist es eine Überarbeitung? Ein Update?
Nach Sigmund Freud, der die menschliche Psyche als erster in drei verschiedene Instanzen aufteilte (nämlich: Das Es, das Ich und das Über-Ich), modernisierte und erweiterte die Transaktionsanalyse diesen Ansatz und bezog sich sprachlich auf das Kindheits-, das Erwachsenen- und das Eltern-Ich. Noch jüngere Therapieschulen, wie beispielsweise die Schematherapie unterscheiden diese drei Instanzen wiederum in weitere Unterinstanzen. So beispielsweise in das verletzte, das wütende oder das fröhliche innere Kind; das wohlwollende und das strafende Eltern-Ich usw. Auch der bekannte Psychologe Schulz von Thun unterscheidet zahlreiche „Unterpersönlichkeiten“ und hat den Begriff vom „inneren Team“ geprägt. Je mehr Instanzen jedoch ins Spiel kommen, desto fummeliger und komplizierter wird es. Nach meiner Erfahrung reichen das Schatten- und das Sonnenkind und der „innere Erwachsene“ vollkommen aus, um sich selbst zu analysieren und sich zu verändern.
Was können Paare aus dem Modell des inneren Kindes für ihre Beziehungen lernen?
Wenn sie sich ihrer inneren Glaubenssätze und vergangener Kränkungen bewusst werden, dann können sie sich auf einer tiefen Ebene viel besser verstehen und ganz wichtig: unnötigen Streit vermeiden. Wir reagieren ja nicht auf die Ereignisse da draußen, sondern auf unsere Interpretation derselben. Ich komme noch einmal auf Michael und Sabine zu sprechen: Wenn Sabine seine Lieblingswurst vergisst, dann meint das Schattenkind in Michael, sie tue dies aus mangelndem Respekt und aus Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Aufgrund seiner Fehlinterpretation mutiert sie in seinen Augen für diesen Moment zur Feindin und der Streit nimmt seinen Lauf. Wäre Michael sich seines Schattenkindes bewusst, dann würde er Sabine einfach zugestehen, dass sie – genau wie er – nicht perfekt ist und auch mal etwas vergessen darf. Er bliebe dann innerlich mit ihr auf Augenhöhe und wäre somit wesentlich gefeiter davor, ihr Verhalten persönlich zu nehmen.
Wie kann ich meinem Partner, der wenig übrig hat für Psychologie und Persönlichkeitsmodelle, diesen Gedanken vermitteln?
Es sind ja meistens Männer, die dafür „wenig übrig“ haben. Diese Abwertung psychologischer Modelle erfolgt aus der unterschwelligen Angst auf eigene Schwächen und Probleme zu stoßen. Manche Menschen haben geradezu einen Horror vor Selbsterkenntnis. Das Modell, das ich entworfen habe, ist jedoch durch die Zeichnung leicht zu verstehen und eingängig. Insofern könnte man da vielleicht den einen oder anderen Widerständler mit einfangen. Meiner Meinung nach ist die Selbstreflexion nicht nur der Königsweg zur eigenen Lebenszufriedenheit, sondern auch der Königsweg, um ein besserer Mensch zu werden. Alles Leid in dieser Welt entsteht aufgrund von unreflektierten “Schattenkindern”. Insofern hat die Selbsterkenntnis auch eine politische Dimension. Das sollte den Selbst-Erkenntnis-Verweigerern klar sein.