Die Arbeit mit dem “inneren Kind” ist eines der Spezialgebiete von Psychologin und Autor Stefanie Stahl. Wir haben einen Auszug aus Ihrem neuen Buch “Das Kind in dir muss Heimat finden”
Jeder Mensch braucht einen Ort, an dem er sich geborgen, sicher und willkommen fühlt. Jeder Mensch sehnt sich nach einem Ort, an dem er sich entspannen kann und wo er ganz er selbst sein darf. Im Idealfall war das eigene Elternhaus ein solcher Platz. Wenn wir uns von unseren Eltern angenommen und geliebt gefühlt haben, dann hatten wir ein warmes Heim. Unser Zuhause war genau das Zuhause, nach dem sich jeder Mensch sehnt: eine herzwärmende Heimat. Und dieses Gefühl aus Kinderzeiten, angenommen und willkommen zu sein, verinnerlichen wir als ein grundlegendes positives Lebensgefühl, das uns auch als Erwachsene begleitet: Wir fühlen uns geborgen in der Welt und in unserem Leben. Wir haben Selbstvertrauen und können auch anderen Menschen Vertrauen schenken. Man spricht auch vom sogenannten Urvertrauen. Dieses Urvertrauen ist wie eine Heimat in uns selbst, denn es gibt uns inneren Halt und Schutz.
Nicht wenige Menschen verbinden jedoch mit ihrer Kindheit vorwiegend unschöne Erinnerungen, manche sogar traumatische. Andere Menschen hatten eine unglückliche Kindheit, aber haben diese Erfahrungen verdrängt. Sie können sich kaum noch erinnern. Wieder andere meinen hingegen, ihre Kindheit wäre »normal« oder sogar »glücklich« gewesen, was sich jedoch bei näherem Hinsehen als Selbstbetrug herausstellt. Doch auch wenn man die Erfahrungen von Unsicherheit oder Ablehnung in der Kindheit verdrängt hat oder als Erwachsener vor sich selbst herunterspielt, so zeigt sich doch im Alltagsleben, dass das Urvertrauen dieser Menschen nicht sehr ausgeprägt ist. Sie haben Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, sie zweifeln immer wieder, ob ihr Gegenüber, ihr Partner, die Chefin oder die neue Bekanntschaft sie wirklich mag und ob sie willkommen sind. Sie mögen sich selbst nicht so richtig, verspüren viele Unsicherheiten und haben oft Beziehungsschwierigkeiten. Sie konnten kein Urvertrauen entwickeln und empfinden deswegen wenig inneren Halt. Stattdessen wünschen sie sich, dass die anderen ihnen ein Gefühl von Sicherheit, Schutz, Geborgenheit und Heimat vermitteln. Sie suchen nach einer Heimat bei ihrem Partner, ihren Kollegen, auf dem Fußballplatz oder im Kaufhaus. Und sie sind stets aufs Neue enttäuscht, wenn die anderen Menschen ihnen bestenfalls sporadisch ein Heimatgefühl vermitteln können. Sie merken nicht, dass sie in der Falle stecken: Wer keine innere Heimat hat, wird sie auch im Außen nicht finden.
Wenn wir von diesen Kindheitsprägungen sprechen, die, neben unseren Erbanlagen, sehr stark unser Wesen und unser Selbstwertgefühl bestimmen, dann sprechen wir von einem Persönlichkeitsanteil, der in der Psychologie als »das innere Kind« bezeichnet wird. Das innere Kind ist sozusagen die Summe unserer kindlichen Prägungen –guter wie schlechter, die wir durch unsere Eltern und andere wichtige Bezugspersonen erfahren haben. An die allermeisten dieser Erfahrungen erinnern wir uns nicht auf der bewussten Ebene. Sie sind jedoch im Unbewussten festgeschrieben. Man kann deshalb sagen: Das innere Kind ist ein wesentlicher Teil unseres Unbewussten. Es sind die Ängste, Sorgen und Nöte, die wir von Kindesbeinen an erlebt haben. Und zugleich sind es auch alle positiven Prägungen aus unserer Kindheit.
Vor allem die negativen Prägungen machen uns als Erwachsene jedoch oft Schwierigkeiten. Denn das Kind in uns tut viel dafür, damit es Kränkungen und Verletzungen, die ihm in seiner Kindheit zugefügt wurden, nicht noch einmal erleben muss. Und zugleich strebt es immer noch danach, seine Wünsche nach Sicherheit und Anerkennung erfüllt zu bekommen, die in seiner Kindheit zu kurz gekommen sind. Die Ängste und Sehnsüchte wirken im Untergrund unseres Bewusstseins. Auf der bewussten Ebene sind wir unabhängige Erwachsene, die ihr Leben gestalten. Doch unser inneres Kind beeinflusst auf der unbewussten Ebene unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln ganz maßgeblich. Sogar sehr viel stärker als unser Verstand. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Unterbewusstsein eine sehr machtvolle psychische Instanz ist, die zu 80 bis 90 Prozent unser Erleben und Handeln steuert.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Michael bekommt immer wieder Wutanfälle, wenn seine Lebensgefährtin Sabine etwas vergisst, was ihm wichtig ist. Neulich vergaß sie beim Einkaufen seine Lieblingswurst, und er ist richtiggehend ausgeflippt. Sabine war wie vor den Kopf geschlagen –für sie fehlte einfach nur die Wurst. Für Michael schien jedoch die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Was war da passiert?
Michael ist sich nicht darüber bewusst, dass es das innere Kind in ihm ist, das sich von Sabine nicht genügend beachtet und respektiert fühlt, wenn sie seine Lieblingswurst vergisst. Er weiß nicht, dass der Grund für seine enorme Wut nicht Sabine und die vergessene Wurst ist, sondern eine tief liegende Verletzung aus der Vergangenheit: nämlich der Umstand, dass seine Mutter seine Wünsche als Kind nicht ernst genommen hat. Sabine hat mit ihrem Versäumnis lediglich Salz in diese alte Wunde gestreut. Doch weil Michael der Zusammenhang zwischen seiner Reaktion auf Sabine und den Erfahrungen mit seiner Mutter nicht bewusst ist, kann er nur wenig Einfluss auf seine Gefühle und sein Verhalten nehmen. Der Streit um die Wurst ist nicht der einzige Konflikt dieser Art in ihrer Beziehung. Michael und Sabine streiten sich häufig um banale Dinge, weil beiden nicht bewusst ist, worum es ihnen wirklich geht. Denn so wie Michael wird auch Sabine von ihrem inneren Kind gesteuert. Ihr inneres Kind reagiert sehr empfindlich auf Kritik, weil sie es früher ihren Eltern selten recht machen konnte. Michaels Wutanfälle lösen also auch in Sabine alte Kindgefühle aus. Sie fühlt sich dann klein und wertlos und reagiert entsprechend gekränkt und beleidigt. Manchmal denken beide sogar, es wäre besser, sich zu trennen, weil sie sich so häufig wegen Kleinigkeiten fetzen und sich dabei gegenseitig so tief verletzen.
Hätten Sie jedoch einen Einblick in die Sehnsüchte und Verletzungen ihres inneren Kindes, könnten sie sich genau darüber austauschen, statt sich an der Oberfläche über eine vergessene Wurst oder ein Tick zu viel Kritik zu streiten. Sie würden sich dann sicherlich viel besser verstehen. Und sie würden sich näherkommen, anstatt sich gegenseitig anzugreifen. Dabei ist das Unwissen um das innere Kind nicht nur der Grund für Konflikte in Paarbeziehungen. In vielen Konflikten kann man –wenn man die Zusammenhänge kennt –sehen, dass hier nicht Erwachsene mit einem guten Selbstbewusstsein einen Konflikt lösen, sondern innere Kinder miteinander kämpfen. Zum Beispiel wenn der Angestellte auf die Kritik des Chefs reagiert, indem er den Job hinwirft. Oder wenn ein Staatsmann die Grenzverletzung eines anderen Staatsmannes mit dem militärischen Angriff beantwortet. Die Unwissenheit um das innere Kind verursacht, dass viele Menschen mit sich und ihrem Leben unzufrieden sind, Konflikte zwischen Menschen entstehen und nicht selten unkontrolliert eskalieren können.
Dabei gehen auch jene Menschen, deren Kindheit vorwiegend glücklich war und die Urvertrauen erworben haben, in der Regel nicht völlig sorgenfrei und problemlos durchs Leben. Auch ihr inneres Kind hat gewisse Blessuren erfahren. Denn es gibt keine perfekten Eltern und keine perfekten Kindheiten. Auch sie haben neben guten Prägungen von ihren Eltern auch schwierige Anteile übernommen, die ihnen im späteren Leben Probleme bereiten können. Vielleicht sind diese Probleme nicht so augenfällig wie Michaels Wutanfälle. Vielleicht tut man sich schwer, Menschen außerhalb der Familie zu vertrauen. Oder man trifft nicht gern große Entscheidungen. Oder man bleibt lieber unter seinen Möglichkeiten, als sich zu weit aus dem Fenster zu hängen. Doch in jedem Fall ist es so, dass die negativen Prägungen aus der Kindheit uns einschränken, unsere Entwicklung und auch unsere Beziehungen behindern.
Letztlich gilt für fast alle Menschen: Erst wenn wir Bekanntschaft und Freundschaft mit unserem inneren Kind schließen, werden wir erfahren, welche tiefen Sehnsüchte und Verletzungen wir in uns tragen. Und wir können diesen verletzten Teil unserer Seele akzeptieren und bis zu einem gewissen Grad sogar heilen. Unser Selbstwert kann hierdurch wachsen, und das Kind in uns wird endlich eine Heimat finden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen friedlicher, freundlicher und glücklicher gestalten. Und es ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns von Beziehungen, die uns nicht guttun oder sogar krank machen, lösen können.