Doch in unserer Gesellschaft ist es noch immer üblich, kleinen Kindern die Verantwortung für sich selbst abzunehmen. So wird den Kindern von Anfang an subtil vermittelt, dass nicht sie für sich verantwortlich sind, sondern andere. Das kann so weit gehen, dass der Nachwuchs immer darauf vertraut, dass jemand anderes sich schon kümmern wird. Doch spätestens, wenn die Kinder zur Schule kommen, wollen die meisten Eltern, dass sie eigenständiger werden. Sie sind genervt, wenn ihre Kinder keine Anstalten machen, sich um sich selbst zu kümmern. Es muss doch möglich sein, dass sich ein Sechsjähriger selbst Frühstück nimmt, wenn er Hunger hat, statt darauf zu warten, dass Mama endlich kommt. Klar ist es möglich! Aber eben nur dann, wenn dem Sechsjährigen nicht sechs Jahre lang die Eigenverantwortung abgenommen wurde.
Die Erwachsenen überfordern sich
Wir Eltern sorgen dafür, dass unsere Kinder genügend vollwertiges Essen zu sich nehmen, dass sie genug Schlaf bekommen, dass sie wettergerecht angezogen sind und nicht krank werden, dass sie gut in der Schule lernen, damit sie nicht abgehängt werden und später einen guten Job bekommen. Das haben schon unsere Eltern für uns und unsere Großeltern für unsere Eltern getan. Zusätzlich übernehmen wir heutigen Eltern aber ein viel größeres Pensum an emotionaler Fürsorge als frühere Generationen. Wir versuchen, feinfühlig auf die Bedürfnisse unserer Kinder einzugehen; in den Babyjahren planen wir sogar unseren Alltag um die Bedürfnisse der Kinder herum. Wir halten Wutanfälle aus. Wir trösten ausgiebig. Wir wenden uns bei Streit mit unseren Kindern nicht ab, sondern versuchen, zu klären und Kompromisse zu finden. Wir wägen die Bedürfnisse aller ab und versuchen, sie unter einen Hut zu bekommen. Das ist, um es mal vorsichtig auszudrücken, anstrengend.
Die wahrscheinlichste Erklärung dafür, dass frühere Elterngenerationen nicht so stark am Limit liefen wie wir, ist vermutlich ganz einfach: Es wurde weniger Bohei um das emotionale Wohl der Kinder gemacht. Nicht, dass wir nicht geliebt wurden. Aber wenn wir einen Wutanfall hatten, mussten wir allein »ausbocken«. Es war klar, dass die Erwachsenen das Sagen hatten, ob sie nun im Recht waren oder nicht. Das Leben wurde um die Bedürfnisse der Eltern herum organisiert, Kinder hatten sich dem anzupassen. Um es noch einmal zu betonen: Unsere Eltern liebten uns. Es war damals einfach nicht en vogue, auf die emotionalen Bedürfnisse von Kindern einzugehen.
Dass wir diese Art von Erziehung nicht wiederholen wollen, steht wohl außer Frage. Doch es ist offensichtlich, dass wir uns wieder stärker um uns selbst kümmern sollten. Unsere eigene Selbstfürsorge dürfen wir nicht schleifen lassen. Sonst nehmen wir unseren Kindern vor lauter Selbstaufgabe irgendwann übel, dass sie scheinbar so viel von uns verlangen. Um unseren Kräftehaushalt zu schonen, müssen wir Möglichkeiten finden, unser Arbeitspensum zu verkleinern. An diesem Punkt kommt die Eigenverantwortung der Kinder ins Spiel.