Vor einem Jahr ist Julia gestorben

Ich konnte es nicht fassen. Ich habe geschrien vor Wut und Trauer, tagelang.

Wo bist du, Julia? Wie konntest du mich alleine lassen, Julia? Wann bist du wieder da? Zum ersten Mal in unserem Leben hast du mich vergessen. Verstehst du nicht, dass ich ohne dich nicht kann? Nie zuvor wurde ich von so einem gewaltigen Schmerz überrollt. Er war das erste, was ich morgens empfunden habe, und das letzte, was ich vor dem Schlafen gehen noch gespürt habe. Außer Schmerz hatte ich nichts mehr in meinem Leben.

Andere haben versucht, mir zu helfen, aber ich habe sie nicht gehört. Ich war wie in einem Stummfilm: Weder die anderen verstehen, noch mich zu artikulieren war mir möglich. Wie konntest du mir das antun? Doch genau sechs Monate später holte mich die Realität ein. Unsere Wohnung ist mir alleine zu teuer geworden, verlassen konnte ich sie jedoch nicht. Das wäre ein Verrat an uns gewesen, weißt du, Julia? Ich musste aus unserem Liebesnest eine WG machen.

Ich muss ehrlich zugeben: Ich habe den ersten Kandidaten genommen, der genügend Geld auf dem Konto hatte. Eine Kandidatin. Eine Studentin, zehn Jahre jünger als ich, fröhlich und aufgeweckt, aber das interessierte mich alles nicht. Eine Woche nach ihrem Einzug konnte ich immer noch nicht sagen, was sie studiert, obwohl sie es mir mehrmals geduldig erklärt hatte. Sie war nicht Julia, und damit war sie mir egal.

Aber nach und nach füllte sich unsere Wohnung mit Leben. Sie lachte viel und gerne, lud Freunde ein, ging feiern und erzählte über ihre abenteuerlichen Reisen. Mein Schmerz, der vorher wie Lava kochte, ist nach und nach kälter geworden und letztendlich zu einem Eisberg in meiner Brust geworden. Ich fand meine neue Mitbewohnerin irgendwann nett.


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