Unser anonymer Autor berichtet ergreifend von seiner letzten Beziehung mit einer Frau, die unter Bulimie litt. Er verspricht da zu sein, wenn sie ihn braucht, auch wenn ihre Beziehung längst auseinander gegangen ist
Ich sitze auf meiner Couch im Wohnzimmer und erinnere mich an einen gemeinsamen Abend vor langer Zeit, als wir noch ein Paar waren. An einen Bahnhof erinnere ich mich, an rote Kreuze und das sanfte Geräusch deines Schlafs. Ich erinnere mich, weil gerade auf der Fensterbank vor mir drei Stumpenkerzen herunterbrennen und mich ihr Licht an damals erinnert. Die Szene kommt mir in meiner Erinnerung so nahe, dass das Jetzt mit dem Gestern verschwimmt, als seien beide eins. Damals war das so …
„Ich habe für uns gekocht“, sagst du, als du mich vom Bahnhof abholst.
„Pasta?“, frage ich neckisch.
„Natürlich! Es gibt nichts Besseres!“
Du hast Pasta abgöttisch geliebt, und auch dafür habe ich dich damals geliebt: Für deine aufrichtige Liebe zu den Dingen und Menschen, die dir wertvoll waren.
„Lass mich raten: Arrabbiata, grünes Pesto, rotes Pesto …?“
„Arrabbiata! Aber mit selbst gerösteten Pinienkernen – und hinterher gibt es Schokoeis!“
Ich nehme dich in die Arme, du hast mir gefehlt.
Endlich bei dir zuhause sage ich: „Setz dich doch, ich mach das, du hast schon so viel getan.“ Und eine Sekunde später füge ich hinzu: „Ich liebe dich, weißt du das?“ Ich gehe in die Küche, um das Besteck und das Geschirr zu holen, tiefe Teller für die Pasta, bauchige Gläser für den Wein, den ich mitgebracht habe. Draußen schüttet es, ich freue mich darüber.
Ich öffne den Hängeschrank über der Spüle und sehe deinen Kalender. Handgeschrieben, jeder einzelne Tag des Jahres mit Datum und Wochentag, aus mehreren DIN-A4-Blättern zusammengeklebt. Wir haben Oktober, das Jahr hat bereits viele Tage erlebt, gute und schlechte. Davon zeugen die Kreuze, die du hinter jedem einzelnen Tag bis zum heutigen gemacht hast. Ich bin neben dir der einzige Mensch, der deinen Kalender kennt. Er hängt an der Innenseite der Schranktür, damit Besucher keine Fragen stellen.
Ich sehe schwarze Kreuze, ganz viele, und ich sehe ein paar rote Kreuze. In den Tagen, in denen wir uns nicht gesehen haben (es waren wieder einmal zu viele), sind einige rote hinzugekommen. Ich schlucke, greife nach den Tellern, Gläsern, nach dem Besteck und kehre zu dir zum Esstisch zurück.