Fünf Wochen ohne Familie, in Reha. Freunde, Bekannte und Ärzte redeten auf mich ein, es sei das Beste für mich. Mag sein – nur es fühlte sich nicht so an, nichts fühlte sich an wie es sein sollte. Schon lange schaute ich nicht mehr in den Spiegel, diese kleine graue Maus war mir suspekt. Wo war nu der Paradiesvogel geblieben? Überhaupt, wann hatte ich angefangen nicht mehr auf mich zu achten? Wann wurde ich zur Joggingqueen? Früher besaß ich nicht mal Jogginghosen, heute trug ich diese Dinger Tag ein Tag aus. Im Schuhschrank hatte sich bereits eine Staubschicht über meine Pumps gelegt, sinnbildlich für mein klägliches Ich.
Die zweite Woche brach an, ich ließ mich in die Sing-Therapie eintragen und war gespannt, was mich da erwartete. Ich hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht mit der Liebe. Es war Dienstagmorgen und ich machte mich fertig, na ja, also Jogginghose, graues Shirt dazu einen Dutt und – um das Outfit perfekt zu machen – meine alten Filzpantoffeln. So stand ich also im Raum und wartete mit einigen anderen auf die Therapeutin.
Der einzige Mann im Raum sang sich in mein Herz
Obwohl „Er“ der einzige Mann im Raum war, hatte ich ihn nicht wahrgenommen. Die Therapeutin kam rein, stellte sich uns kurz vor, dann erklärte sie das Konzept und schon ging´s los. Am Ende, so die Therapeutin, möchte sie die Stunde mit einem Kanon schließen. Dazu stimmte sie ein Lied an, das wir bereits kannten. Wir sollten alle umherlaufen und uns bewegen, nach und nach nahm sie wahllos immer zwei Personen und stellte sie nebeneinander. Ich achtete nicht darauf, mit wem ich plötzlich zusammenstand, ich sah nur auf die Therapeutin, die uns das Zeichen für den Einsatz gab. Und das war der Moment, in dem sich seine Stimme direkt in mein Herz sang. Seine Stimme durchbrach in Lichtgeschwindigkeit meinen Panzer.
Ich fühlte Hitze und Feuer, Freude und Liebe. Ich schüttelte den Kopf, mir war schwindlig. Mein Herz raste und mein Verstand setzte aus, ich musste mich auf den Text konzentrieren und hörte mich Singen, während mein anderes Ich nicht fasste, was gerade passierte. Dann schaute ich in die Richtung dieser verdammten, geilsten Stimme überhaupt. Große Scheiße, da sah mich dieser Typ an: eine Mischung aus Ertappt und Erregung. Dann schaute er weg, die Therapeutin gab uns das Zeichen, dass wir einen weiteren Durchgang singen sollten. Wie ferngesteuert drehte ich mich in seine Richtung und auch er stellte sich mir gegenüber. Und so sangen wir uns an, und sahen uns an. Seine dunklen Augen schauten so intensiv und ich wurde mehrmals rot, er lächelte und sein linker Mundwinkel zuckte nervös. Ich sah, dass auch er völlig überfordert war und auch er immer wieder wegschaute. Plötzlich sah ich alles in Farbe. Es war als hätte er mich wachgeküsst, was mein Mann, meine Familie, die Ärzte und Therapeuten nicht schafften. Er hatte es getan, in weniger als einer Sekunde, einfach so.