Beinahe war es Liebe

Er wollte mehr Freiraum, sie wollte mehr Wir. Unsere anonyme beziehungsweise-Leserin erzählt von einer Beinahe-Beziehung, die letztlich leider nur ihren Hoffnungen existierte

Unsere Welt geriet immer mehr ins Wanken. Je näher ich dir kam, desto mehr entferntest du dich von mir. Meine Verliebtheit forderte mehr Du, mehr gemeinsame Zeit. Wenn auch nicht unbedingt in Form einer festen Beziehung, so ersehnte ich in deinem Erleben ebenfalls eine Art von exklusiv Stellung für mich. Diese konntest und wolltest du mir nicht geben. 

Du wolltest frei sein

Viele Gespräche, Tränen, Emotionsausbrüche später, gab es kein weiter mehr. Du hieltest die Nähe zwischen dir und mir nicht mehr aus. Du meintest dich nicht mehr frei zu fühlen, aufgrund der Nähe und Tiefe unseres Miteinander-Seins. Wir blieben zunächst Freunde. Unsere Nähe blieb bestehen. Ausgeklammert war von nun an lediglich die sexuelle Intimität. So musstest du nicht darauf verzichten, dich weiterhin scheinbar frei zu fühlen und konntest einer Verantwortungsübernahme entgehen. Du wolltest frei sein und zu niemanden gehören. Vielleicht hat dir, die Liebe, die du in mir für dich gesehen hast, auch Angst gemacht. Doch dies ist nicht die ganze Wahrheit. 

Ich musste erkennen, wie unterschiedlich letztlich die Bedeutung ist, die wir nahen Menschen in unserem Leben beimessen. Und dass für dich, nicht wie ich zunächst dachte, in der Konsequenz ebenso eine Einzigartigkeit für sie mit einhergeht. Dabei hast du mir aufgezeigt, wie weit unser Wert für Aufrichtigkeit auseinander liegt. 

Für mich kam unserer Tiefe und Nähe ein alleinstehendes Bedeutungsmerkmal zu, für dich hingegen war sie nur eine unter vielen möglichen. Für mich ist das Anstreben von Aufrichtigkeit ein selbstverständliches Merkmal naher Beziehungen. Deine Priorität war viel mehr, es dir einfach zu machen und nicht zu sehr mit dir selbst konfrontiert zu werden, um so dein erbautes Selbstbild und damit einhergehend dein scheinbares inneres Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können. Die fehlende Aufrichtigkeit mir gegenüber war dabei ein Preis, den du bereit warst, zu zahlen.

Ich wollte dich ganz – aber du nicht mich

Dabei fällst du von einer Frau in die nächste, die dir nur so nahekommen dürfen, dass du nicht Gefahr läufst, dich selbst und deinen Raum für dich zu verlieren. Die dich nicht mehr fordern, als du bereit bist zu geben, dir deine Welt der Unverbindlichkeit lassen und darin dennoch Nähe und Intimität ermöglichen. So entkommst du der Einsamkeit, bist dem Alleine-Sein nicht ausgeliefert, musst dich aber der wirklichen Auseinandersetzung mit dir selbst nicht stellen.

Ich wollte dich ganz. Du wolltest mich nicht auf diese Weise. Du wolltest alles, aber nichts davon ganz. Mich weiter in deiner Nähe wissen, nebenbei jedoch all den anderen möglichen Optionen nachgehen. Deine Freiheit behalten. Nähe, aber nicht das Einlassen auf einen ganzen Menschen und eine mögliche Liebe. Dabei frage ich mich: Nimmst du dir nicht gerade mit dieser Abhängigkeit von für dich austauschbaren Menschen am Ende deine ersehnte Freiheit selbst? Indem du nicht erträgst, allein zu sein und von einer Frau in die nächste fällst. Bist du nicht angewiesen auf all die Frauen, die dir als Schutzschild vor deiner Einsamkeit dienen, aber nicht mehr?

Verloren haben wir beide

Irgendwann habe ich es nicht mehr ertragen. Ich bin so lange dageblieben, nur um dich, unser Wir und unsere Nähe zu behalten. Viele Tage, Nächte, Tränen, innere Kämpfe, Zigaretten, Gläser Wein, Briefe an dich, Stunden voller Grübeln und viele Gespräche habe ich gebraucht, um zu verstehen, dass ich dein ganzes Du, das ich wollte, längst verloren hatte. Und ich immer weiter an meiner erbauten Illusion von dir festhielt.  Es gab nur noch den Weg, dich ganz gehen zu lassen. Halb zu gehen, hattest du bereits selbst entschieden. Ich wollte dich ganz und nicht nur einen Teil von dir. Kein Du ist am Ende besser als ein bisschen Du. 


Weitere interessante Beiträge