Als hätte ich dich gestern erst verlassen

Sie haben sich geliebt. Eine Art der Liebe, die niemals ganz verschwinden wird. Aber es war auch eine Liebe, die unsere anonyme Autorin heute als nicht gesund empfindet

Es tut so weh, als hätte ich dich gestern verlassen, dabei ist es fast zwei Jahre her. Ich sehe dich vor mir, könnte dich zeichnen aus der Erinnerung: deine Zähne, deine Lippen, das Muttermal auf der linken Wange. Ich weiß genau, wie sich deine Haare anfühlen und wie deine Haut und kenne alle Proportionen deines Körpers. Ich weiß genau, wie deine Stimme klingt und welche Geräusche du von dir gibst, wenn du überrascht, fröhlich oder erregt bist.

Und du kennst mich genauso gut. Du weißt, was ich mir in unserem Lieblingsrestaurant bestellen würde, würden wir jemals wieder hingehen. Du weißt, welcher mein Lieblingsschal ist und kennst die Geschichten hinter meinen Narben. Wir wissen, wo der andere kitzlig ist und wovor er Angst hat. Ich kenne alle Mitglieder deiner Familie und habe sie alle so gern gehabt. Ich kann mich an den Geruch der Wohnung deiner Tante erinnern, weiß, wo man die Gläser in der Küche deiner Mutter findet.

Ich kenne alle deine Lieblingssänger und weiß, welche Dinge du witzig findest und wie sehr du dich über deine Balkonblumen freust, wenn sie wachsen. Ich erinnere mich an so viele schöne Momente, voller Lachen, Ausgelassenheit, echter Zuneigung, romantischer Gesten und Abenteuer. Wir hatten von der Zukunft geträumt, uns Namen für unsere zukünftigen Kinder zurechtgelegt und überlegt in welchen Ländern wir wann leben wollen.

Und so sehr wir die positiven Seiten des anderen liebten, so haben unsere Schwächen immer wieder miteinander reagiert. Mal sind sie lautstark explodiert, mal leise in mir implodiert. Immer ein Riss mehr in meiner Seele. Und noch einer. Und noch einer. Und nach den Streits war für dich immer wieder alles auf Null. Alles war okay, wir lieben uns doch, war doch nur ein blöder Streit. Romantische Gesten und liebe Worte könnten das doch wieder ausgleichen.

Aber für mich bleiben jedes Mal Schäden, Narben und Risse, die mir irgendwann innerlich solche Schmerzen bereitet haben, dass ich nicht mehr schlafen, nicht mehr richtig atmen konnte. Und dich hat das so verwirrt und genervt, warum ich eigentlich nicht mehr funktioniere und nicht die Frau an deiner Seite bin, in die du dich verliebt hast und die du dir wünschst. Und so hast du meine Fehler und meine emotionalen Schmerzen mal gestreichelt und mal draufgehauen und gehofft, sie gehen durch Fürsorge oder gezielte Abwertung weg. Gestreichelt, draufgehauen, gestreichelt, draufgehauen.


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