Wie aktuell ist das bürgerliche Familienkonzept? Gibt es Alternativen? Wer definiert, was die Norm ist? Jochen König hat genauer hingeschaut: Co-Elternschaft, Ein-Eltern- und Regenbogenfamilien sind längst Teil unserer Gesellschaft. Ein Buchauszug
Wie sehen Familien heute aus?
Der Begriff Familie ist nicht eindeutig und für alle Zeiten bestimmt. Was wir darunter verstehen, ändert sich ständig. Familien haben sich verändert und sind dabei, sich weiter rasant zu verändern. Die Wahrnehmung davon, was Familie ist, unterscheidet sich nicht nur historisch, sondern sowohl regional als auch kulturell. Allein die kulturellen Unterschiede umfassen eine Reihe von Aspekten, die allesamt Einfluss darauf haben, wie wir Familie verstehen und wie wir zusammenleben: Differenzen zwischen Stadt/Land, Milieus, Ost/West, unterschiedliche Herkunft oder Religion. Das Familienbild ist zusätzlich abhängig von rechtlichen Vorgaben wie beispielsweise der Frage, wer heiraten darf oder Kinder adoptieren und/oder als die eigenen anerkennen lassen darf und wer nicht, sowie von gesellschaftlichen bzw. medialen Trends. Wie wir Familie verstehen, wer dazugehört und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, ist sehr individuell. Umso mehr lohnt sich ein genauerer Blick.
Es geht mir keineswegs darum, ein traditionelles Modell abzuwerten, wie auch immer es in der Realität aussehen mag. Einige meiner besten Freunde sind verheiratet, haben Kinder und sind glücklich. Zumindest mehr oder weniger. Es gibt aber viele, die freiwillig oder unfreiwillig eigene Wege gehen. Man kann diese Familien ignorieren oder die Augen offen halten und die Familien und Lebensrealitäten um uns herum beachten. Ich möchte schauen, wie andere ihre Familien organisieren. Ich möchte mir die Zeit nehmen, viele unterschiedliche Leute kennenzulernen. Es ist höchste Zeit, den Blick zu erweitern. Es ist höchste Zeit, die Realitäten anzuerkennen. Wenn wir über Familien sprechen, dürfen wir uns nicht mehr nur an einem Bild orientieren. Bisher werden viele Formen des Zusammenlebens bis an den Rand der Wahrnehmbarkeit gedrängt. Wenn medial über sie berichtet oder diskutiert wird, dann meist als exotische Einzelfälle. Es gibt diese Familien – und zwar mehr als nur vereinzelt. Manchmal muss man nur etwas genauer hinsehen, um sie zu entdecken.
Was wollen wir unseren Kindern vermitteln und vorleben?
Die Debatte um Familien ist auch eine Debatte um Werte. Und eine Debatte darum, welche Werte den zukünftigen Generationen vermittelt werden sollen. Es sei besonders wichtig, Kindern auch heute noch klassische familiäre Werte zu vermitteln, wird häufig betont. Doch was genau sind eigentlich diese Werte? Und wollen wir unseren Kindern wirklich vermitteln, dass es Familien gibt, die mehr wert sind als andere? Dass es Familien gibt, die normal sind, und solche, die nicht normal sind? Wollen wir bestimmten Kindern wirklich erzählen, dass sie aus Familien kommen, die nicht normal sind? Wollen wir Kindern wirklich erzählen, dass sie und ihre Familien von der Gesellschaft, von Gott oder wem auch immer weniger geschätzt und gewollt sind als Kinder aus anderen Familien? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unseren Kindern familiäre Werte vermitteln können, ohne uns an einem einzelnen Familienmodell orientieren zu müssen.
Wie muss die Politik an die veränderten Realitäten angepasst werden?
Wenn sich die familiären Realitäten ändern, muss sich auch die Politik daran anpassen. Bisher orientiert sie sich vor allem am »klassischen« Mutter-Vater-Kind-Modell. Wenn Familienpolitik jedoch ernsthaft Familienpolitik sein möchte und nicht nur Klientelpolitik, dann muss sie sich mit der Vielfältigkeit der Familienformen im 21. Jahrhundert ernsthaft auseinandersetzen. Es ist höchste Zeit, nicht nur unsere Wahrnehmung von Familie, sondern auch unsere Politik an die veränderten Realitäten anzupassen. Dabei kann hier kein vollständiger Maßnahmenkatalog präsentiert werden. Ein paar Aufgaben ergeben sich aber zwangsläufig und offensichtlich aufgrund der vorgestellten Familienkonstellationen.
Lesen Sie hier ein Interview mit Jochen König, dem Autor von “Mama, Papa, Kind?”
Mama, Papa, Kind?
Von Singles, Co-Eltern, und anderen Familien
ISBN 978-3-451-31274-8
Verlag Herder