Trendthema Polyamorie – Liebesbeziehungen mit mehr als einer Person gleichzeitig. Ein sehr offenes Interview mit Andreas Hamann, der polyamor lebt und mit Vorurteilen aufräumen möchte
Für viele Menschen ist Polyamorie ein seltsames Fremdwort, das irgendwie rechtfertigt, mit mehr als einem Partner Sex haben zu dürfen. Wir wollten wissen: Wie lebt man Polyamorie? Welches Beziehungsmodell verbirgt sich dahinter? Und wer trägt eigentlich in einer Dreierbeziehung den Müll raus?
Lieber Herr Hamann, wie definieren Sie Polyamorie?
Polyamorie ist ein sehr allgemeiner Begriff und wird von vielen Menschen sehr unterschiedlich gelebt. Erstaunlicherweise denken die meisten Menschen, die ich mit dem Thema konfrontiert habe, sofort an Sex. Dabei ist die wörtliche Übersetzung „Viellieberei“. Sex ist in meinem Leben ein wichtiger Teil in der Liebe. Aber der Gedanke, dass kurze Urlaubsflirts oder auch Prostitution etwas mit echter Liebe zu tun hätten, zeigt, dass man Polyamorie nicht auf Sex alleine reduzieren sollte.
Die meisten polyamor lebenden Menschen, die ich getroffen habe, lebten mit mehreren Partnern, im Einverständnis mit dem einen Hauptpartner. Ich lebte die Polyamorie mit meinen beiden Partnerinnen unter einem Dach. Sie funktionierte nur deshalb, weil beide Partnerinnen eine „Bi“-Komponente haben, wodurch jeder Partner zwei andere Partner liebt. Man könnte es auch eine Dreierbeziehung nennen.
Mögen Sie und verwenden Sie diesen Begriff eigentlich selbst?
Ich spreche von Polyamorie oder auch Dreierbeziehung mit gleichberechtigten Partnern.
Sind Partner in einer polyamoren Beziehung einander treu oder gibt es Freiräume für andere Kontakte und Beziehungen?
Treue in einer monogamen Beziehung habe ich selbst als Definition von „Du darfst mit keiner anderen Frau ins Bett“ wahrgenommen. Über die Zeit hat sich meine eigene Definition davon aber gewandelt. Treue ist gleichbedeutend mit Ehrlichkeit geworden. Das ist die zentrale Grundlage für die Beziehung. Eine echte Lüge, egal bei welchem Thema, würde das sofortige Ende der Beziehung bedeuten. Das klingt sehr hart und ist auch sehr viel Arbeit, aber es lohnt sich. Es ist das eine Band, welches niemals zerreißen darf.
Zu dieser Treue/Ehrlichkeit kommt noch dazu, dass es entscheidend ist, proaktiv zu sein. Übersetzt heißt das, nur weil Du Deinen Partner nicht belügst, wenn Du gefragt wirst, bist Du noch lange nicht ehrlich. Würde ich eine „Dummheit“ begehen, die gegen die Absprachen meiner Partner verstößt, teile ich das bei der nächstmöglichen Gelegenheit ungeschönt mit. Das ist nicht immer einfach und tut auch manchmal weh. Aber nur so entsteht das nötige Vertrauen und die Sicherheit für die Partner in der Beziehung, die diese Freiräume erst möglich machen.
Es gibt keine Tabus und es wird über alles gesprochen. Dabei sind die Gefühle des Anderen ein zentraler Bestandteil. Logik ist hier fehl am Platz, da Gefühle einfach nicht logisch sind. Sexuelle Abenteuer, zum Beispiel in Urlauben, können okay sein, wenn sich alle damit bequem fühlen.
Wann und wie haben Sie für sich festgestellt, dass eine Zweierbeziehung Sie nicht vollständig glücklich macht?
Meine erste richtige monogame Beziehung lebte ich über drei Jahre mit einer wirklich tollen Frau. Verliebt ist man, wenn man daran denkt, wie toll es ist, mit dem Partner zusammen zu sein und Liebe wird daraus, wenn einem das Wohl des Partner wichtiger wird als das eigene. Damals wusste ich, dass ich früher oder später fremdgehen würde, obwohl ich sehr glücklich mit meiner Partnerin war. Wir trennten uns und machten uns noch einmal neu auf die Suche nach dem richtigen Partner.
So lernte ich nach einigen Jahren eine Frau kennen, die innerhalb einer Woche nach der ersten Begegnung bei mir einzog und mein Leben völlig durcheinander warf. Sehr kurze Zeit später beichtete sie mir, dass sie eigentlich mit einer Frau zusammenleben wollte und ich quasi dazwischen geraten sei. Ab diesem Moment dachte ich das erste Mal über eine polyamore Beziehung nach.
Wie reagieren Familie, Freunde oder Kollegen auf ein polyamores Coming Out?
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Man kann aber zwei Hauptströmungen ausmachen: Die Einen sind sehr aufgeregt, neugierig und finden das alles sehr spannend. Die Anderen sind ebenfalls aufgeregt, aber flüchten eher vor uns oder erklären uns kurz, warum diese Lebensweise zum Scheitern verurteilt sei. Es gibt noch eine sehr geringe dritte Strömung, die sehr gelassen darauf reagiert.
Wir haben natürlich unsere Familien jeweils informiert, was zu unterschiedlichen Reaktionen führte. Aus meiner Perspektive kann ich dazu nur sagen, dass meine Eltern das sehr gelassen genommen haben und zumindest die Mütter meiner Partnerinnen ebenfalls. Die Väter meiner Partnerinnen waren, freundlich ausgedrückt, davon überhaupt nicht begeistert.
Wie „klassisch“ leben polyamore Beziehungen? Ein Haus, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer oder eher drei Wohnungen? Alle Paare streiten sich über auch einmal Haushaltsteilung, Finanzen, Verantwortungen. Wie treffen Sie Entscheidungen?
In meinem Fall lebten wir zusammen in einer Wohnung, wie andere zu zweit in einer Wohnung leben würden. Die Vorteile liegen klar auf der Hand: Wenn einer mal wieder länger arbeiten muss oder es andere außergewöhnliche Umstände gibt, sind die anderen Beiden nicht alleine. Die Lebenshaltungskosten teilen sich durch drei und die Hausarbeit auch.
Der größte Unterschied trat in unserem Fall im Miteinander auf. Zum Beispiel konnte ich bei Problemen in meinen vorherigen Beziehungen auch mal ein Machtwort sprechen – das geht jetzt überhaupt nicht mehr. Die Beziehungsform hat sich zu einer Demokratie weiterentwickelt, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Kleinigkeiten müssen plötzlich über Stunden ausdiskutiert und gerechte Lösungen erarbeitet werden, was zu meinen monogamen Zeiten bestimmt nicht passiert wäre. Als klassisches Beispiel kann ich über das Autofahren berichten. Wenn wir zu dritt fahren, sitzen zwei Personen grundsätzlich hinten, damit niemand aus dem Gesprächskreis ausgeschlossen und damit benachteiligt ist. Die Frage ist nun, wer fährt und wer darf gemeinsam hinten sitzen? Das klingt vielleicht banal, aber am Ende hat das bei uns ein Würfel entschieden.
Was an diesem Modell macht Sie besonders glücklich?
Die Abwechslung und Reichhaltigkeit von drei Menschen, die Impulse und Ideen in die Beziehung bringen. Eine typische Situation ist: „Wollen wir zu Veranstaltung XY gehen?“ Früher hätte es gereicht, wenn ich gesagt hätte: „Nö, keine Lust“, aber wenn zwei von drei Personen schon demokratisch zugestimmt haben, dann nehme ich an Veranstaltung XY teil, selbst wenn ich in einer monogamen Beziehung höchstwahrscheinlich nicht hingegangen wäre. Andersherum freue ich mich immer wieder, wenn ich eine Verbündete für meine Veranstaltungsideen finde.
Und was macht Sie an diesem Modell besonders unglücklich?
Die harten Vorurteile von anderen Menschen, die keinerlei Erfahrung mit der Polyamorie haben, aber alles darüber zu wissen glauben. Hinzu kommt, dass fast alles auf zwei Personen ausgelegt ist. Wenn ich eine Reise (für zwei Personen, wie üblich) gewinne, dann möchte ich wohl kaum eine Entscheidung darüber treffen, wen ich zurücklassen muss.
Wissen Sie von anderen polyamoren Beziehungen, welche Rolle Eifersucht dort spielt und wie die Partner damit umgehen?
Diese Antwort kommt mit einer Warnung vorweg: Wenn man sich in eine polyamore Beziehung begibt und sich die Bedeutung der Treue dahingehend verändert, wie es bei uns der Fall ist und wie ich es auch bei vielen anderen polyamoren Beziehungen erlebt habe, dann werden sehr viele Filme verdammt langweilig. Betroffen sind sämtliche Filme, in denen entweder der Mann oder die Frau eine Affäre vermutet und nicht weiß, ob er oder sie angelogen wird. Man kann sich damit nicht mehr identifizieren, weil ich meine Partner einfach fragen würde, ob sie mit einer anderen Person etwas erlebt haben. Ich bin mir absolut sicher, dass diese Frage überflüssig wäre, weil mir meine Partnerin bereits proaktiv von irgendwelchen Vorkommnissen berichtet hätte. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass man mit einer Lüge in dieser Beziehungsform normal weiterleben könnte.
Dennoch gibt es Eifersucht. Diese entsteht sofort, wenn eine Beziehungsebene direkt oder indirekt mit einem anderen Menschen angestrebt wird. Also jemand anderes mit ernsten Absichten Kontakt zu meinen Partnerinnen aufnimmt.
Wie gehen Sie mit der großen und der kleinen Eifersucht in einer polyamoren Beziehung um?
Wenn der Beziehungssegen schief hängt, weil etwa Eifersucht im Spiel ist, aber es eben nur ein Gefühl ist, dann sprechen wir einfach darüber und rudern so lange zurück, bis emotionale Klarheit herrscht. Entscheidend ist nicht die Logik in unserer Beziehung, sondern ausschließlich die Gefühle.
Wenn eine polyamore Beziehung zerbricht, bleiben dann nach Ihrer Erfahrung zwei Partner zusammen? Kann sich die Beziehungsdynamik neu ausrichten?
In unserem Fall war das so. Mit meiner Partnerin, mit der ich schon seit rund sieben Jahren zusammenlebe, bin ich immer noch zusammen. Allerdings ist die Belastung groß und es gibt natürlich das Risiko, dass eine Beziehung komplett zerbricht. In unserem Fall streben wir die Gleichberechtigung der Partner an, was nur gelingt, wenn man die vorhandenen Verbindungen aufbricht und neu zusammenwachsen lässt. Das hört sich zwar leicht an, ist aber sehr herausfordernd. Dadurch sind wir in besonderer Weise gefährdet komplett zu zerbrechen, aber nur dadurch, glauben wir, ist es erst möglich, einen neuen Menschen an unserer Seite zu haben, der sich nicht wie das dritte Rad am Wagen fühlt.
Vater, Mutter, Kind – wir haben heute viele Patchworkfamilien, die dieses Modell verändert haben. Wie geht eine polyamore Beziehung mit Kindern um? Rechtlich kann es ja (derzeit) nur einen Vater und eine Mutter geben. Wie wirkt sich das auf die Partner aus? Wie lassen sich polyamore Partnerschaft und Familienwunsch vereinen?
Gerade beim Thema Kinder sind wir oft harsch kritisiert worden. Angeblich könnte das Kind dann in der Schule gemobbt werden und würde vermutlich einen Schaden fürs Leben bekommen. So oder so ähnlich haben wir das einige Male gehört. Andererseits bin ich davon überzeugt, dass ein Kind, welches mehr Liebe erfährt, es automatisch leichter im Leben hat. Und wenn ich selbst als Kind die Entscheidung treffen könnte, ob ich lieber zwei Mamis und einen Papi oder nur ein Elternteil, wie es leider traurige Realität für sehr viele Kinder ist, haben würde, dann wüsste ich, wofür ich mich entscheiden würde.
Seit aus der Wirtschaftsgemeinschaft Ehe das Ideal der Liebesheirat geworden ist, lässt sich liebenden Erwachsenen eine Heirat schwerlich verbieten. In Deutschland dürfen homosexuelle Paare zwar nicht heiraten, aber immerhin eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. Irgendwann kommt auch hier die Öffnung der Ehe. Kommt die Öffnung auch für polyamore Beziehungsmodelle? Würden Sie das für sich persönlich wollen?
Das mag jetzt überheblich klingen, aber ich bin davon überzeugt, dass sich unser Lebensmodell sehr gut auf eine rechtliche Grundlage setzen lässt. Zur Not würde ich das bis zur letzten Instanz durchklagen.
Aber soweit ist es noch nicht und zur Wahrheit gehört auch, das wir momentan nur zu zweit leben und nicht mehr zu dritt. Unsere gemeinsame Partnerin hatte lange Zeit gekämpft, aber sich am Ende für den Frieden mit ihrem Vater entschieden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir die Suche nach einer neuen Partnerin auf ein Minimum reduziert haben, weil der Aufwand eine Partnerin zu finden so unheimlich hoch und zugleich auch sehr frustrierend ist. In unserem Fall heißt das nämlich: Eine Frau mit Bi-Neigung, ungefährem Alter meiner derzeitigen Partnerin (28), dem außergewöhnlichen Mut zu dieser Beziehungsform … und dann muss man sich auch noch gut verstehen und miteinander etwas anfangen können.