Du kannst meine Probleme doch nicht mit deinen vergleichen

Jan ist ein echtes Glückskind, solche Leute gibt es, denen einfach alles in den Schoß fällt. Er ist in der perfekten Familie aufgewachsen. Die Eltern waren und sind glücklich miteinander, in ihren Berufen und von Haus aus sehr vermögend. Ihr einziger Sohn hat an einer Privatuni in der Schweiz BWL studiert, ist jetzt erfolgreicher Geschäftsführer einer großen Firma. Als wäre das nicht genug, hatte Jan ausnahmslos Erfolg bei den Frauen. Er konnte jede haben, bis er Thea traf und nur noch sie wollte.

In ihrem Beruf als Journalistin ist Thea genauso erfolgreich wie Jan als Manager. Sie ist klug und schön, aber im Unterschied zu Jan ist sie nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Thea hatte es schwer. Ihre Mutter hat sie allein großgezogen, das Geld war knapp. Thea hat sich alles hart erarbeiten müssen. Dafür bewundert Jan sie. Theas emotionaler Unterbau im Leben war immer ihre Wahlfamilie, ihre Freunde, vor allem ihre beste Freundin Kerstin. Die beiden gehen seit der Kindheit durch dick und dünn. Kerstin hat Thea wie eine Schwester unterstützt. Mehr noch, sie hat fast mütterlich für sie gekämpft. Wenn Thea Unrecht widerfahren ist, hat Kerstin ihr Mut gemacht und Kraft gegeben, ihren Weg unbeirrt weiterzugehen.

Seit ein paar Monaten zieht sich Kerstin von Thea zurück

Sie erklärt sich nicht, sie meldet sich nicht, sie lässt Thea im Regen stehen. Thea fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Sie leidet extrem unter der Situation. Auch im Job läuft es nicht. Bei Jan ist alles in bester Ordnung. Wenn er Thea von einer beruflichen Sorge erzählt, die ihm durchaus zu schaffen macht, im Grunde genommen jedoch nicht existenziell ist, hat sie kein Ohr dafür. Bügelt das ab und sagt, ach, was weißt Du schon, Dir geht es doch gut. Jan möchte auch in seinen Nöten gesehen werden und ist enttäuscht, dass er für seine Partnerin Empathie aufbringt, und er selbst geht leer aus.  

Jan sagt: „Ich erkenne natürlich die Realität. Ich sehe, dass Thea im Job echt am Limit ist, weil sie sich zur Zeit für jeden Auftrag an die Decke strecken muss. Das bereitet ihr schlaflose Nächte. Sie war jahrelang an der Spitze, das ist gerade ein Fall, den sie erlebt. Das wirft sie aus der Bahn, obwohl sie sich finanziell auf mich verlassen kann. Und ich sehe, was es mit ihr macht, dass ihre engste Verbündete sich von ihr distanziert und das ohne jede Erklärung. Das sind zwei echte Brocken. 

Trotzdem muss Thea die Kirche im Dorf lassen. Wenn ich mich über einen Kunden geärgert habe oder darüber, dass ich zwei Kilo zugenommen habe, muss ich das äußern können. Das ist dann vielleicht kein tiefes Leid, sondern nur ein Alltagsärger, aber ich finde, dass man verschiedene Arten von Stress nicht gegeneinander aufwiegen kann. Man sollte doch füreinander da sein. Der eine trägt in einer Beziehung die Last des anderen, wie leicht oder schwer diese Last auch sein mag.

Das ist mein Verständnis von Liebe

„Ich trage die großen Lasten von Thea mit und erwarte, dass sie meine kleinen ebenfalls trägt, sonst haben wir eine Helferlein-Beziehung, in der ich der Helfer bin. Ich habe den Eindruck, dass sich Thea in den letzten Monaten nicht nur aktuell mit mir vergleicht, sondern generell. Dass sie für meinen Geschmack verdächtig oft erwähnt, dass ich es von Kindesbeinen an leicht gehabt habe. Ich traue mich kaum, es laut auszusprechen, doch ich denke manchmal, dass Thea neidisch ist auf mein Leben. Das darf nicht sein in einer heilen Beziehung. Das habe ich Thea deutlich gesagt. Das ist der Anfang vom Ende.“

Thea verwehrt sich gegen diesen Vorwurf. Sie hat sich mit Jan stets auf Augenhöhe gefühlt, betont sie. Er hat seine Geschichte und sie hat ihre. Sie gönnt ihm alles, was er hatte und hat. Sie schaut objektiv auf sein Leben und sie kann objektiv auf ihr Leben sehen und es schätzen.  

Thea sagt: „Ich grabe nicht in der Vergangenheit und jammere, dass Jan von Geburt an der Gewinner war und ich erst einmal die Verliererin, bis ich mich selbst neu erfunden habe und geworden bin, was ich bin. Ich betrachte mich weiterhin als Gewinnerin. Ich merke allerdings, dass mich eine berufliche und private Krise womöglich auf eine andere Weise erschüttert als sie Jan erschüttern würde. Er kann vielleicht auf mehr Selbstvertrauen zurückgreifen. Er glaubt an sich. Seine Eltern haben ihm das in die Wiege gelegt, haben sich um ihn gekümmert, seine Kindheit und seine Jugend aufmerksam und liebevoll begleitet, ihn gefördert. Der einzige Mensch, der mich begleitet und gefördert hat, das war Kerstin. 

Und die ist weg

Okay, ich gebe es zu, wenn ich mich gerade selbst sprechen höre, fällt mir auf, dass ich mich schon mit Jan vergleiche. Hier der vom Glück verwöhnte Jan, da die vom Glück vernachlässigte Thea. So hört sich das jedenfalls beim ersten Hinhören an. Dahinter steckt keine Klage, keine Anklage, sondern eine Analyse. Ich versuche, mir auf die Spur zu kommen. Zu verstehen, warum mich das alles derart anfasst. Warum ich nicht einfach darauf vertraue, dass sich alles wieder früher oder später einrenkt. Ich hätte gedacht, dass mich die positiven Erfahrungen der letzten Jahre so stark gemacht haben, dass ich mit einer Krise besser umgehen kann. Stattdessen stelle ich fest, dass ich mit großer Angst reagiere. Angst, dass ich wieder verliere, was ich mir aufgebaut habe. 


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