Eric Hegmann: Wie definieren Sie Ghosting und wo liegt der Unterschied zur Funkstille, über die Sie vor einigen Jahren bereits berichtet haben?
Tina Soliman: Seit vielen Jahren treibt mich das Thema „Funkstille“ um, das plötzliche Verschwinden aus – nahen – Beziehungen ohne Erklärung, und teilweise berühren und überschneiden sich beide Begriffe. Dennoch trenne ich die „Funkstille“ und „Ghosting“ klar voneinander. Zwar ereignet sich auch beim Ghosting ein plötzlicher Kontaktabbruch ohne jede Erklärung. Und auch das Ghosting lässt Leidende zurück – allerdings sind es eher die Verlassenen, die leiden, nicht derjenige, der wie ein Geist im Nichts verschwindet.
Bei der Funkstille flieht der Abbrecher meistens aus einer Situation, die für ihn ausweglos erscheint. Er will sich schützen, muss flüchten, um zu überleben. Vor Scham versinkt er im Boden und möchte eigentlich doch „nur“ mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Seine Botschaft: Bitte höre, was ich nicht sage! Funkstille ist Flucht – sie signalisiert Angst und Überforderung. Bei der Funkstille sucht der Inhalt nach einer Form. Beim Ghosting ist es genau umgekehrt: Die Form bestimmt den Inhalt. Das Schweigen beim Ghosting besagt: „Du bist nicht da“ oder „ich bin nie da gewesen“.
Ghosting ist abgeklärter und kälter als die Funkstille. Und Ghosting ist auf den ersten Blick für den Abbrecher mit weniger Emotionen verbunden. Ich würde also sagen: Wer in die „Funkstille“ entweicht, ist ein Ausbrecher. Wer andere ghostet, ist ein Abbrecher. Hinzu kommt: „Funkstille“ wird als rein privat, ja, sogar als tabubehaftet angesehen, sie spielt sich überwiegend in Familien ab. Hingegen ist Ghosting – und das ist ja das Problem – auffallend gesellschaftsfähig geworden, fast schon epidemisch. Ghosting gehört zu unserer neuen Umgangskultur.
Langfristig betrachtet dürften die Folgen für den „Geist“, für das (Selbst-)Bewusstsein und für das soziale Miteinander extrem schädlich sein. Ghosting greift die Substanz menschlichen Miteinanders an. Jeder von uns ist Mitglied einer Gemeinschaft. Also entscheidet auch jeder mit, wie und ob sie funktioniert.
Wie haben sich nach Ihren Beobachtungen die Menschen und ihr Verhalten in den letzten Jahren verändert? Und haben Sie eine Vermutung, welches die Ursachen sind?
Der unbegründete Kontaktabbruch ist vom schambehafteten Unfall zur achselzuckend hingenommenen Normalität geworden. Doch niemand scheint damit glücklich zu sein. Wie wir aus Beziehungen gehen, ist das Thema auf den Plattformen und in den Blogs. Wie Menschen in und aus Kontakten gehen, hat sich in kürzester Zeit vollkommen verändert. Wir „löschen“ ständig Menschen, wenn wir auf den Dating-Apps von links nach rechts wischen. Glauben Sie nicht, dass das etwas mit den Menschen macht?
Wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen? Wir haben die Gesetze aus der Warenwelt auf uns selbst übertragen, sind zu einem Produkt geworden, das man konsumiert und dann zurückgibt, wenn es nicht passt. Dank der Digitalisierung ist das virtuelle Regal ja auch immer gut gefüllt. Man muss nur zugreifen. „Was nicht passt, geht retour.“ Erinnert Sie das nicht an Online-Shopping? Der Tenor ist: Ich suche. Ich suche nach dem Passenden. Dem Besten. Der Andere sollte so oder so sein, erfüllte aber meine Ansprüche nicht. Also brach ich wortlos ab. Die ständige Flucht über den Notausgang ist Folge der ununterbrochenen Zugänglichkeit des Internets.