Bleib draußen, böse Welt – mein Hikikomori-Syndrom

beziehungsweise-Autor Jonathan Bern zieht sich zurück, wenn es ihm nicht gut geht. Doch auf Dauer ist das Einsiedlerdasein weder befriedigend noch hilfreich. Wie kommt er raus aus diesem Verhalten, das auch Hikikomori-Syndrom genannt wird?

„My Home is my Castle“ ist meine Devise, seitdem ich erwachsen bin. Meine Kindheit verbrachte ich zum Teil in strengen Internaten. Bis ich achtzehn wurde, gab es für mich nie ein richtiges Zuhause. Geborgenheit blieb bis dahin ein Fremdwort. Jetzt eine schöne Wohnung zu besitzen, bedeutet mir sehr viel, als persönlicher Rückzugsort und Wohlfühloase.

Mit der Außenwelt kommuniziere ich lieber online, was das Leben in vielen Bereichen einfacher – aber auch einsamer – macht. Da ich beruflich oft telefonieren muss, bin ich froh, privat darauf zu verzichten. In einem Magazin stand, dass heutzutage spontane Telefonate fast als übergriffig empfunden werden. Auch wenn ich altersmäßig mehr zu den Best-Agers als zu den Millennials gehöre, sehe ich das genauso. Via Messenger-Dienst kann jeder antworten, wann es ihm danach ist.

Mit meiner letzten Freundin empfand ich das tagtägliche Schreiben als ein besonderes Ritual. Es erzeugte in unseren Augen eine spürbare Nähe, auch wenn es sich häufig um Banalitäten des Alltags handelte. Auf der anderen Seite waren Missverständnisse vorprogrammiert. Diese virtuelle Welt nahm immer mehr Raum ein. Manchmal erlebten beide ein unangenehmes Schweigen als wir uns trafen, weil man sich vorher fast alles per WhatsApp erzählt hatte. 

Nur in meiner Wohnung fühle ich mich sicher

Als die Beziehung auseinander ging, wurde mir bewusst, dass ich sehr isoliert lebte. Neue Kontakte zu pflegen, überforderte mich. Ich hatte mich in den letzten drei Jahren leider nur auf einen Menschen konzentriert. Mich in die eigenen vier Wänden zurückzuziehen, half mir mein Gleichgewicht nach und nach wiederzufinden. Die meisten suchen in einer solchen Situation Trost oder Zerstreuung bei Freuden oder Familie. Mir fehlte die Energie, mich „sozial“ zu verhalten. Nur in meiner Wohnung fühlte ich mich einigermaßen sicher und innerlich ruhig.

Zufällig las ich einige Berichte über ein bis vor kurzem nur japanisches Phänomen: Hikikomori. Es sind meistens junge Menschen, die sich freiwillig von der Außenwelt abschotten. Sie kehren eines Tages in ihr Kinderzimmer zurück und meiden Fremde. Meine Situation war sicher nicht vergleichbar, aber dennoch sah ich einige Berührungspunkte. Im Alltag musste ich weiterhin funktionieren, aber ich spielte nur eine Rolle. Sich zu verschanzen, war sicher nicht die beste Strategie, um die Trennung zu verarbeiten. Ich mutierte zum „Hikikomori-light“. Tagsüber nahm ich weiterhin am gesellschaftlichen Leben teil. Abends lag ich in meinem viel zu großen Boxspringbett in Begleitung von Netflix und Tinder. Sich an die Abwesenheit von Zärtlichkeit, Berührungen und Sex zu gewöhnen, finde ich erschreckend. Es handelt sich nicht um eine unheilbare Krankheit mit Todesfolge, aber man sollte die Risiken nicht unterschätzen. 


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