Einander Vorlesen – Lob des gemeinsamen Bucherlebnisses

Gemeinsam zu wohnen heißt auch, viel Zeit miteinander zu verbringen. Wie man diese Zeit verbringt, ist bei Paaren sehr unterschiedlich und kann Außenstehenden auch schon mal merkwürdig erscheinen. Mein Mann und ich lesen uns liebend gerne gegenseitig Bücher vor

Wenn man noch nicht so früh „sesshaft“ wird und daher sein halbes Liebesleben vor allem damit zugebracht hat, ein wenig Zeit zum Zusammensein mit dem Schatz freizuschaufeln und zu überlegen, wann man sich wo ausnahmsweise mal wieder sehen kann, erwischt einen nach dem Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung ja ein Thema kalt: Man hat plötzlich Zeit, viel Zeit, die man miteinander verbringen darf. Was also tun? Vor allem, wenn man selbst ein leichtes Grauen vor typischen Pärchenaktivitäten wie gemeinsamen Spieleabenden mit anderen Paaren oder dem gemeinschaftlichen Besuch eines Fitnessstudios hat. Jeden Abend Serien auf Netflix zu konsumieren, ist am Ende auch keine Lösung …

Ich bin in Sachen Filme schauen und Bücher lesen eine Wiederholungstäterin. Ich kann Filme, die mir lieb sind, zigmal sehen und Romane, die mein Herz erfreuen und beruhigen, hundertmal lesen. Es gibt sogar Bücher aus meiner Kindheit, die ich ab und an wiederlese, und besonders dicke Romane wie „Love“ von Stephen King lese ich immer wieder mit Gewinn. Warum das so ist, ist schwer zu sagen, es gibt meinem Seelenleben wohl Stabilität. Außerdem gewinnen Bücher und Filme je nach der Lebensphase, in der man selber steckt, plötzlich ganz andere neue Dimensionen – und können daher immer wieder Stütze und Ratgeber sein.

Und weil ich also selbst gern „wiederlese“ und außerdem die von mir geliebten Texte auch weitergeben möchte, fing es irgendwann einfach an: „Hast du Lust, dass ich dir ein Buch vorlese?“ Zum Glück hatte er Lust – und so fingen wir an, Abende, Nachmittage, im Urlaub sogar ganze Tage damit zu verbringen, dass ich ihm meine geliebten Bücher vorlas – Bücher, die ich so verinnerlicht hatte, dass ich beim Lesen nie stockte. Außer, es wurde mal traurig und mir flossen Tränen. Irgendwann wollte auch er mir vorlesen – und ich entdeckte eine ganz neue Dimension: nämlich die, einfach dazusitzen oder zu liegen, gar nichts zu tun und zuzuhören. Mehr Entschleunigung und bewusstes Zur-Ruhe-Kommen geht eigentlich nicht.

Ich genieße dieses Miteinander aus ganz vielen Gründen – der geistige Austausch, der darin liegt, sich über die Bücher, die einem etwas bedeuten, auch wichtige Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Dem jeweils anderen neue Autoren oder Denkweisen nahezubringen. Ohne weitere Störung oder Ablenkung zusammen zu sein. Man hört die Stimme des oder der anderen, ist sich zugewandt und erlebt dabei auch noch Geschichten. Und es ist einfach sehr gemütlich, ob mit einem Glas Wein oder ohne.

Ja, auch das Nebeneinander eines Netflix-Abends ist schön und miteinander ausgehen sowieso – aber wenn es etwas gibt, was „unser Ding“ als Paar ist, dann sind es all die Stunden, die wir einander vorlesend zusammen verbracht haben.


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